Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 729

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modernen Entwicklung der deutschen Bourgeoisie selbst liefern – wenn sie nämlich im Zusammenhang mit den Tatsachen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens behandelt würde.

Daß Dr. Schüller seine Aufgabe so, wie wir sie hier formuliert haben, aufgefaßt hat, läßt sich keineswegs behaupten. Was er bietet, ist vielmehr eine sehr skizzenhaft behandelte Reihe von wirtschaftspolitischen Porträts bedeutender klassisch-liberaler, reaktionär-romantischer und historischer Theoretiker, der sich ein ebenso leicht hingeworfenes Bündel von allgemeinen Betrachtungen über die verschiedenen Methoden der genannten Richtungen anschließt.

Dr. Schüller bezeichnet mit vollem Rechte die deduktive Methode der Forschung als den hervorragendsten Charakterzug der klassisch-liberalen Nationalökonomie, zugleich als die Basis ihrer fortschrittlichen Wirkung in der Praxis. Ebenso richtig ist die Behauptung, das Verlassen der deduktiven Forschungsmethode hätte den Mangel an jeglichen festen Prinzipien und infolgedessen die theoretische Unfruchtbarkeit und die wirtschaftspolitische Rückständigkeit der historischen Schule zur Folge gehabt. Das Ganze ist bei Schüller ein warmes Plädoyer für die Methode der klassischen Ökonomie und eine Mahnung an die heutigen Volkswirte, zu dieser Methode zurückzukehren. Weshalb aber die historische Schule die Forschungsweise der Klassiker verlassen hat und wie angesichts ihrer Seichtheit und Rückständigkeit ihr weitgehender und lang andauernder Einfluß in der deutschen Nationalökonomie zu erklären ist, darauf finden wir bei Dr. Schüller keine Antwort. Und doch kann nur bei handgreiflicher Erklärung dieser Fragen auch die Mahnung Schüllers an die heutigen Ökonomen, in die seine ganze Analyse ausklingt, etwas Handgreifliches werden.

Die ungeteilte Herrschaft der klassischen Wirtschaftslehre im Anfang unseres Jahrhunderts auch in Deutschland ist allgemein bekannt. Es ist keineswegs so sehr übertrieben, wenn Marwitz im Jahre 1810 an Rahel schrieb, neben Napoleon sei Ad. Smith der mächtigste Monarch in Europa. In Preußen waren alle Staatsmänner der Stein-Hardenbergschen Periode Schüler von Ad. Smith. Die meisten offiziellen Kundgebungen der Regierung aus jener Zeit tragen den deutlichen Stempel der klassischen Lehre. Ja sogar das hohe Militär: Gneisenau, Scharnhorst, Witzleben, sind warme Anhänger des klassischen Liberalismus. Die Theorien von Smith waren die Bibel der ganzen Renovierungsperiode Deutschlands, die nach dem Krach von Jena[1] für kurze Zeit der konsequenten Reaktion den Platz streitig machte.

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[1] In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt wurden am 14. Oktober 1806 die zwei Hauptarmeen des reaktionären preußischen Staates unmittelbar nach Beginn des Feldzuges von den Truppen Napoleons I. geschlagen.