Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 705

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Es sollte demnach scheinen, daß in solchen Verhältnissen für die moderne Arbeiterbewegung kaum etwas zu holen ist. Allein die Tatsachen beweisen, daß in jeder noch so zurückgebliebenen Gegend die sozialdemokratische Agitation schöne Erfolge verzeichnen kann, wenn sie nur im richtigen Moment und in richtiger Weise einsetzt.

Es stellt sich nämlich heraus – in Posen wie sonst –, daß die erste Bedingung der Aufrüttelung und Aufklärung der proletarischen Massen die gewerkschaftliche Organisation, der gewerkschaftliche Kampf bilden. Solange die Bemühungen unserer Partei in Posen sich auf die politische Agitation beschränkten – allerdings war auch diese äußerst mangelhaft geführt –, blieb die eigentliche Arbeitermasse von ihr fast unberührt. Schon die Unmöglichkeit, entsprechende Lokale für öffentliche politische Versammlungen zu bekommen, verhinderte einen unmittelbaren Kontakt der Agitatoren mit weiten proletarischen Kreisen.

Erst seitdem man die Kräfte auf die Schaffung einer gewerkschaftlichen Organisation in allen Arbeitszweigen gerichtet hat, ist auch für die Agitation, für das Klassenbewußtsein Zutritt zu der Arbeitermasse geschaffen worden. Die eigentliche gewerkschaftliche Agitation gibt hier die Möglichkeit, eine stille, unmerkliche, aber um so fruchtbarere Aufklärungsarbeit zu entfalten. Das Gewerkschaftskartell ist von selbst zum geistigen Mittelpunkte geworden, zu dem die Arbeiterschaft von allen Seiten strömt, um das sie sich gruppiert. Hier findet sie nicht nur die Vertretung ihrer Fachinteressen und den Rechtsschutz, sondern auch geistige Nahrung: Bücher, Broschüren, Zeitungen, gegenseitige Aussprache.

Aber es kommen noch weitere Momente hinzu, die der neu entstandenen gewerkschaftlichen Bewegung in Posen einen besonderen Wert verleihen. Sie steht ganz auf dem Boden der allgemeinen deutschen Gewerkschaften, die Posener Arbeiter treten alle den deutschen Zentralverbänden bei. Und damit sind die beiden schwierigsten Hindernisse für die sozialdemokratische Agitation beseitigt: die nationale Absonderung und der katholische Einfluß. Für den Posener Arbeiter bedeutet deshalb der Eintritt in die gewerkschaftliche Organisation viel mehr als für jeden anderen Arbeiter in Deutschland einen Bruch mit der kleinbürgerlichen, national-klerikalen Auffassung, er ist mehr als irgendwo sonst in Deutschland ein Ausdruck des reifenden Klassenbewußtseins.

Es ist übrigens nicht das erstemal, daß in Posen Versuche zur Schaffung einer gewerkschaftlichen Bewegung gemacht werden. Bereits in den achtziger Jahren sind verschiedentlich Anfänge in dieser Richtung gelegt worden, meistens durch Organisationen lokalen, rein polnischen Charakters.

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