Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 691

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schen Kampfe als zur wissenschaftlichen Gedankenarbeit geschaffene Natur konnte in der erzwungenen Untätigkeit der Verbannung zum erstenmal ungestört zur Geltung kommen. Das Ergebnis waren jene berühmten „Historischen Briefe“ Lawrows, die schon im Laufe ihres Erscheinens in einer periodischen Zeitschrift die ganze intelligente Gesellschaft Rußlands wie ein elektrischer Strom erschütterten. 1870 zuerst in Buchform herausgegeben, waren sie seitdem während der 70er und 80er Jahre das Erziehungsbuch der ganzen revolutionären Jugend.

Stets ein eifriger Forscher der Kulturgeschichte, gelangt hier Lawrow vom kulturgeschichtlichen Standpunkte aus zu sozialistischen Schlüssen. Da die Kultur ein Produkt der Arbeit der menschlichen Gesamtheit ist, so muß sie auch der Gesamtheit zuteil werden, und es ist die sittliche Pflicht eines jeden von der geistigen Kultur zehrenden Menschen, dahin zu arbeiten, um der Masse die Früchte ihrer Arbeit, die Güter der Zivilisation wiederzugeben. Von idealistischem Standpunkte also, aber in ganz origineller, geistvoller und von tiefster Überzeugung durchglühter Form richtet hier Lawrow einen mächtigen Weckruf an die russische Intelligenz, rüttelt ihr Gewissen auf und weist sie in die Bahn der sozialistisch-revolutionären Tätigkeit.

Das Buch gehört zu jenen wenigen, die sozusagen von der Zeit selbst geboren wurden. In den damaligen Verhältnissen konnte in Rußland nur die Intelligenz Trägerin der sozialistischen Ideen sein, die Begründung dieser Ideen konnte also selbstverständlich keinen ausgesprochenen Klassencharakter tragen, konnte nicht materialistisch sein. Sie mußte an das einzige tatsächliche Bindeglied zwischen der Intelligenz und dem arbeitenden Volke in den damaligen Verhältnissen, an die sittliche Pflicht, anknüpfen, sie mußte ferner, angesichts der großen Opfer, womit der Kampf erkauft werden sollte, auf einen sehr hohen moralischen Zensus berechnet werden.

Beides fand die intelligente Jugend in den Briefen Lawrows: eine ihrer Gedankenrichtung völlig entsprechende und von ihrem Standpunkte logisch unüberwindliche Begründung des Sozialismus und einen Jungbrunnen revolutionärer Begeisterung, heldenhafter Selbstlosigkeit, sittlicher Läuterung. Wie erhaben auch heute ein sozialdemokratischer Quartaner von der Höhe seines „Klassenstandpunktes“ und seines „Materialismus“ auf den alten Idealisten zurück- und herabblicken mag – Lawrow hatte ein ganzes junges Heldengeschlecht aus der Taufe gehoben.

Die zierliche blonde Sophie Perowskaja mit ihrem ruhigen Madonnengesichtchen, die ohne mit der Wimper zu zucken zum Galgen schritt, der

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