Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 572

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/572

Wege der sozialen Reform im Schoße der heutigen Gesellschaft herbeigeführt werden kann. Diejenigen, die sich dieser Hoffnung hingeben, stellen sich auf den Standpunkt, auf den sich nur Ignoranten in bezug auf die Vergangenheit und Optimisten in bezug auf die Zukunft stellen können.

Jetzt eine andere, mehr praktische Frage. Bebel hat sechs Stunden in glänzender Weise gegen Bernstein polemisiert. Ich frage: Wäre das geschehen, wenn wir voraussetzen könnten, daß Bernstein der einzige in unseren Reihen ist, der diese Theorien vertritt, wenn die Meinungsverschiedenheiten nicht aus dem Bereich der abstrakten Theorien herausgekommen wären? Wir sind eine praktische, politische Kampfpartei, und wäre nichts weiter vorgekommen als eine theoretische Abweichung von der übrigen Parteiauffassung bei einem Manne, mag er noch so verdient und bedeutend sein, eine solche Bebelsche Rede wäre nicht gehalten worden. Aber wir haben in unserer Partei eine Anzahl Genossen, die auf demselben Standpunkt stehen, und die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich nicht nur auf die Theorie, auf Abstraktion, sondern auch auf die Praxis. Es ist eine allbekannte Tatsache, daß wir seit etwa einem Jahrzehnt in unseren Reihen eine ziemlich starke Strömung haben, die im Geiste der Bernsteinschen Auffassung dahin strebt, unsere jetzige Praxis bereits als Sozialismus hinzustellen und so – natürlich unbewußt! – den Sozialismus, den wir erstreben, den einzigen Sozialismus, der keine Phrase und Einbildung ist, zur revolutionären Phrase zu machen. Bebel hat mit Recht wegwerfend gesagt, daß die Auffassungen Bernsteins so verschwommen, deutungsvoll sind, daß man sie nicht in einen festen Rahmen fassen kann, ohne daß er sagen kann, ihr habt mich mißverstanden. Früher schrieb Bernstein nicht so. Diese Unklarheit, diese Widersprüche hängen nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Richtung, mit dem Inhalt seiner Ausführungen zusammen. Wenn Sie die Parteigeschichte seit zehn Jahren verfolgen, namentlich die Parteitagsprotokolle studieren, so sehen Sie, daß die Bernsteinsche Richtung allmählich erstarkt ist, aber noch durchaus nicht zur Reife gelangt ist; ich hoffe, daß sie es nie wird. In ihrem jetzigen Stadium kann sie gar nicht über ihr eigenes Wesen klar sein, gar nicht die richtige Sprache für ihre Tendenz finden. So ist die Bernsteinsche Unklarheit zu erklären. Wie diese Bernsteinsche Richtung dazu führt, daß unser Sozialismus ein Mumpitz wird, dafür nehmen Sie ein kleines Beispiel aus den allerletzten Tagen. In einer Versammlung in München, die Stellung zu dem heutigen Parteitag nehmen sollte, hat ein Redner[1], indem er auf den Fall Schippel

Nächste Seite »



[1] Gemeint ist Georg von Vollmar, der in dieser Versammlung Ende September 1899 u. a. die Anschauungen Max Schippels und Eduard Bernsteins verteidigt hatte.