Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 565

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Der „Vorwärts“ ist eben in der glücklichen Lage, nie Gefahr laufen zu müssen, eine falsche Meinung zu haben oder seine Meinung zu wechseln – eine Sünde, der er bei anderen nachspürt – aus einem höchst einfachen Grunde: weil er nie eine Meinung hat. Dies sichert ihm übrigens eine große Überlegenheit nicht nur über die Redaktion der „Leipziger Volkszeitung“, wie er zu meinen scheint, sondern auch über manche Freunde in seiner nächsten Nähe, so z. B. über seinen Spiritus rector Genossen Auer (vgl. Auer in Erfurt und Auer in Stuttgart[1]), über seinen ersten Mitarbeiter Genossen Schippel[2] usw. Bei diesen entrüstet sich übrigens der „Vorwärts“ über den Meinungswechsel nicht, vielleicht, weil dieser gerade in einem Umfall zum Opportunismus besteht.

2. Der „Vorwärts“ irrt sich, wenn er meint, die „Vorwärts“-Debatten auf den Parteitagen[3] seien uns unbekannt. Wir haben sie aufs aufmerksamste verfolgt, um nachträglich zu sehen, wie der „Vorwärts“ von der „großen Armee der Parteigenossen“ – der er so gut gedient zu haben glaubt – geliebkost wurde.

Wir haben aus diesen Parteitagsdebatten nur den einen Eindruck gewinnen können: Die Redakteure des „Vorwärts“ werden allerdings nie in der Weise die Redaktion verlassen, wie wir es in Dresden getan haben[4], d. h. aus eigenem freien Willen. Es gibt nämlich zweierlei organische Lebewesen: solche, die ein Rückgrat haben und deshalb auch gehen, zuweilen sogar laufen. Es gibt andere, die keines haben, deshalb nur kriechen und – kleben. Daß ihnen die Notwendigkeit zu gehen „tragikomisch“ vorkommen müßte, glauben wir schon.

3. Noch ein Mißverständnis müssen wir zum Schluß zerstreuen – diesmal ein wirkliches.

Es ist nämlich bloß ein Mißverständnis, wenn die Redakteure des „Vorwärts“ in der angenehmen Einbildung leben, ihre heutige Wirtschaft sei ein legitimes Kind der Demokratie. Ihre Abstammung ist tatsächlich eine

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[1] Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 14. bis 20. Oktober 1891 in Erfurt hatte sich Ignaz Auer zum revolutionären Parteiprogramm bekannt und die sozialreformerischen Forderungen Georg von Vollmars bekämpft. Auf dem Parteitag vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart dagegen hatte Auer eine ungehinderte Meinungsäußerung für alle Auffassungen in der Partei gefordert und den entschiedenen Kampf der revolutionären Kräfte gegen die Reformisten abgelehnt.

[2] Max Schippel, der Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts den linksopportunistischen Kräften in der Partei nahegestanden hatte, ging in den 90er Jahren auf revisionistische Positionen über. Er wandte sich gegen die antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie und gegen ihre wirtschaftspolitischen Auffassungen in Handels- und Zollfragen.

[3] Seit dem Erfurter Parteitag 1891 war der „Vorwärts“ wegen seiner objektivistischen Haltung immer wieder kritisiert worden. Es wurde von ihm als dem Zentralorgan gefordert, zu allen brennenden Parteifragen im Sinne der Gesamtpartei Stellung zu nehmen.

[4] Siehe Rosa Luxemburg: Erklärung. In: GW, Bd. 1/1, S. 270.