Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 547

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in diesem Sinne nicht überschätzen. Auch das nackte Elend tritt nur äußerst zäh und äußerst langsam zurück. Davon zeugt die Schilderung, die man uns jetzt von der Lebenshaltung der Arbeitermasse in England gibt, dem Eldorado des Trade-Unionismus, des Genossenschaftswesens, des Munizipalsozialismus und der Demokratie.

Allein weder Marx noch irgendein anderer Sozialist dachten an das physische Elend als Grundlage der sozialistischen Bewegung; stets hatten sie das soziale Elend, d. h. den Abstand zwischen der Lebenshaltung des Proletariats und der Bourgeoisie, im Auge. So schrieb Lassalle in seinem bekannten „Offenen Antwortschreiben“:

„Alles menschliche Leiden und Entbehren hängt also nur von dem Verhältnis der Befriedigungsmittel zu den in derselben Zeit bereits vorhandenen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten ab. Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle menschlichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage, bemißt sich somit nur durch den Vergleich mit der Lage, in welcher sich andere Menschen derselben Zeit in bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemißt sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zu der Lage der andern Klassen in derselben Zeit“ (Bernsteinsche Ausgabe, II, S. 426).[1] Ähnlich drückte sich Rodbertus bereits 1850 in seinem „Ersten socialen Brief an von Kirchmann“ aus: „Armut ist also ein gesellschaftlicher, d. h. relativer Begriff. Nun behaupte ich, daß der berechtigten Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, seitdem diese im übrigen eine höhere gesellschaftliche Stellung eingenommen haben, bedeutend mehrere geworden sind und daß es ebenso unrichtig sein würde, heute, wo sie diese höhere Stellung eingenommen, haben, selbst bei gleichgebliebenem Lohn nicht von einer Verschlimmerung ihrer materiellen Lage zu sprechen ... Wenn dann noch dazukommt, daß die Zunahme des Nationalreichtums die Mittel zur Erhöhung ihres Einkommens bietet, während sie lediglich den anderen Klassen zugute kommt, so ist es wohl klar, daß in diesem Zwiespalt zwischen Anspruch und Befriedigung, zwischen Reiz und notgedrungener Entsagung die ökonomische Lage der arbeitenden Klassen zerrüttet werden muß.“[2]

In demselben Sinne sprach auch Marx und spricht unser Programm von der Zunahme der Masse „des Elends“ in der bürgerlichen Gesellschaft.

Daß aber das soziale Elend des Proletariats wächst, das beweist uns

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[1] Ferd. Lassalle´s Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Zweiter Band, Berlin 1893, S. 426 f.

[2] Rodbertus: Sociale Briefe an von Kirchmann. Erster Brief Die sociale Bedeutung der Staatswirtschaft, Berlin 1850, S. 71 f.