Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 544

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nahme der großen Unternehmungen, also Zunahme der Proletarier und – bis zu einem gewissen Stadium – der Kapitalisten, aber stärkere Abnahme der kleinen Unternehmer, also Zunahme der Besitzlosen, Abnahme der Besitzenden.

Diese Annahme erklärt Bernstein für falsch. Er schreibt in seinem Buche:

„Es ist also durchaus falsch, anzunehmen, daß die gegenwärtige Entwicklung eine relative oder gar absolute Verminderung der Zahl der Besitzenden aufweist. Nicht ‚mehr oder minder‘, sondern schlechtweg mehr, d. h. absolut und relativ wächst die Zahl der Besitzenden. Wären die Tätigkeit und die Aussichten der Sozialdemokratie davon abhängig, daß die Zahl der Besitzenden zurückgeht, dann könnte sie sich in der Tat ‚schlafen legen‘. Aber das Gegenteil ist der Fall. Nicht vom Rückgang, sondern von der Zunahme des gesellschaftlichen Reichtums hängen die Aussichten des Sozialismus ab.“[1]

Vor allem muß man, um Bernsteins Behauptung erwidern zu können, feststellen, was er unter der Zunahme der „Besitzenden“ versteht? Denkt er da an Kapitalisten, an das Kleinbürgertum oder gar an die Arbeiterklasse? Der Sinn des Bernsteinschen Satzes wechselt mehrmals im Laufe seiner Ausführungen. Gleichwohl, welche Bedeutung wir auch unterstellen, die Ergebnisse sprechen nicht für, sondern wider Bernstein.

Das einschlägige Kapitel ist bei Kautsky, was die Klarheit der Darstellung, die Genauigkeit und die Schärfe der Beweisführung betrifft, das beste des ganzen Buches und liest sich mit wahrem Vergnügen. Wir wollen alle Hauptpunkte seiner Kritik kurz Revue passieren lassen.

Hat Bernstein auf die Zunahme der Kapitalisten hinweisen wollen, dann rennt er offene Türen ein, denn bei der von der Marxschen Lehre vorausgesehenen starken Ausdehnung der kapitalistischen Produktionsweise ist offenbar die Zunahme der Zahl der Kapitalisten eine selbstverständliche Erscheinung. Aber gleichzeitig wächst ja auch unstreitig die Zahl der Proletarier, so daß die sozialen Gegensätze sich verschärfen, was der Marxschen Lehre gerade entspricht.

Hat Bernstein an eine Zunahme der Mittelklassen gedacht, dann steht er allerdings im Widerspruch mit den Annahmen des sozialdemokratischen Programms, aber wir werden umsonst nach einer Bestätigung dieser seiner Behauptung suchen.

Bernstein führt freilich eine Reihe von statistischen Beweisen an, die

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[1] Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899. S. 50 f.