Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 538

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Nach der Marxschen Lehre führt die ökonomische Entwicklung in der modernen Gesellschaft zum Untergang des selbstwirtschaftenden Arbeiters und zu seiner Verwandlung in einen Lohnarbeiter, der von dem Kapitalisten ausgebeutet wird. Im weiteren Ergebnis führt die kapitalistische Entwicklung zur Expropriation in neuer Form: zur Expropriation der Kapitalisten durch Kapitalisten selbst, durch das Mittel des Konkurrenzkampfes und der Konzentration der Kapitalien. Dieser Vorgang bildet nach Marx seinerseits die materielle Grundlage zur dritten Form der Expropriation: zur Enteignung der Kapitalisten durch die stets anschwellende und durch die kapitalistische Produktionsweise selbst geschulte, vereinte und organisierte Arbeiterklasse, mit anderen Worten, zur Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Konzentration des Kapitals ist somit für die sozialistischen Bestrebungen von entscheidender Bedeutung. Sie stellt die historische Aufgabe: die Einführung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung; sie produziert die Kräfte zur Lösung der Aufgabe: die Proletarier; und sie schafft die Mittel zur Lösung: die gesellschaftliche Produktion. Kann auch die Lösung selbst, das heißt die sozialistische Umwälzung, nur aus dem Bewußtsein, dem Willen, dem Kampfe des Proletariats entspringen, so schafft doch die Konzentration des Kapitals ebenso die materiellen Voraussetzungen des Kampfes selbst wie seines siegreichen Ausganges. Indem Bernstein die Tatsache der Konzentration bezweifelt, stellt er die wichtigste wirtschaftliche Voraussetzung des Sozialismus in Frage, und es ist höchst wichtig, in diesem Punkte völlige Klarheit zu schaffen.

Bernstein führt zur Bekräftigung seiner Ansichten, daß der Mittelbetrieb, entgegen der Marxschen Annahme, nicht im Rückgang begriffen ist, eine Reihe von statistischen Daten für England, Österreich, Frankreich, die Schweiz und die Vereinigten Staaten an. Aber für jedes dieser Länder bietet er uns die Ergebnisse je einer Zählung und nicht mehrerer Zählungen. Seine Zahlen können uns also über die Richtung der kapitalistischen Entwicklung in jenen Ländern nicht das geringste sagen. Sie zeigen uns höchstens, wie weit die Konzentration dort bereits vorgeschritten ist, wie hoch die Aussichten der sozialistischen Umwälzung stehen. Aber das sind Fragen, die uns hier gar nicht interessieren, denn nicht darauf kommt es ja an, wie bald wir die Umwälzung in Angriff nehmen können, sondern ob wir uns überhaupt in der Richtung auf dieselbe entwickeln. Auf statistische Untersuchungen der Frage, wie weit die Welt noch vom Zukunftsstaat entfernt ist, dürfen wir wohl verzichten. Dann bleiben aber von dem ganzen Zahlenmaterial, das Bernstein vorführt, nur die Ziffern der deutschen Berufs- und Betriebszählungen übrig.

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