Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 525

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Rede immer wieder den alten Katechismus [Hervorhebung – R. L.] aufsagen?“[1]

Andererseits verliert die Stellung der Sozialdemokratie, wenn man von bürgerlichen Reformen alles erwartet, ihre bisherige Unversöhnlichkeit. Die unerbittliche Bekämpfung aller bürgerlichen Parteien, die nur im Hinblick auf unser Endziel, auf unseren Klassenkampf einen Sinn hat, verwandelt sich in eine politische Dummheit, wenn wir das, was von den bürgerlichen Parteien zu kriegen ist, als das ganze Ziel betrachten. Dann ist der Weg der Verhandlung, des Mit-sich-reden-Lassens, der Konzessionen ein Gebot der politischen Klugheit, wie es dann auch geboten erscheint, überhaupt im Kampfe nicht die uns von der Bourgeoisie trennenden, sondern die uns und ihr gemeinsamen Momente hervorzuheben, „in Kriegserklärungen gegen den ‚Liberalismus‘ etwas Maß zu halten“[2].

Aus derselben Hervorhebung der Zusammengehörigkeit, des gemeinsamen Bodens der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, und der Zurückdrängung im gleichen Maße der unüberbrückbaren Klassengegensätze ergibt sich endlich auch ein Verständnis für sogenannte nationale Interessen, für den Schutz der nationalen Industrie (siehe Schippels Reden in Hamburg[3]), für die nationale „Verteidigung“ (siehe denselben Schippel in Hamburg und seine Stellung zur Milizfrage), für den Dreibund (siehe die Reden Vollmars in München 1891[4]), für die „vernünftige“ Kolonialpolitik (siehe Bernstein in seinen „Voraussetzungen des Sozialismus“[5]).

Auf diese Weise führt die opportunistische Auffassung, die anscheinend „nichts Neues“ in die Partei hineinträgt, nach und nach eine völlige Umwälzung in der ganzen Physiognomie der Arbeiterbewegung herbei. Das Programm, die Taktik, das Verhalten zum Staate, zur Bourgeoisie, zu der aus-

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[1] l. c., S. 182, Rede Vollmars. [Fußnote im Original]

[2] Ed. Bernstein: Voraussetzungen des Sozialismus, S. 129. [Fußnote im Original]

[3] Auf dem sozialdemokratischen Parteitag vom 3. bis 9. Oktober 1897 in Hamburg hatte Max Schippel es abgelehnt, in Debatten über die Zollkämpfe zu sprechen, um die deutsche Industrie gegenüber der Industrie anderer Staaten nicht zu benachteiligen. Weiterhin hatte er sich gegen die antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie gewandt und die Bewilligung von Mitteln für die „Vaterlandsverteidigung“ befürwortet.

[4] In seiner Rede am 1. Juni 1891 in München hatte Georg von Vollmar u. a. behauptet, der 1882 zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien abgeschlossene Dreibundvertrag, dessen Spitze vor allem gegen Rußland gerichtet war und mit dem sich die militärischen Mächtegruppierungen in Europa herauszubilden begannen, diene der Erhaltung des Friedens und müsse deshalb von der Sozialdemokratie unterstützt werden. In seiner Rede am 6. Juli 1891 hatte Vollmar diesen Standpunkt nochmals bekräftigt.

[5] Eduard Bernstein hatte die imperialistische Kolonialpolitik u. a. insofern unterstützt, daß „nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden“ könne und „die höhere Kultur hier im äußersten Falle auch das höhere Recht“ habe. (Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, S. 150.)