Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 524

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daß wir über der ausschließlichen Agitation für naheliegende Aufgaben schließlich vergessen, daß wir eine sozialdemokratische Partei sind, daß wir vergessen, daß Staat und Gesellschaft von heute Todfeinde der Sozialdemokratie sind und es ein Paktieren mit diesen nicht gibt ... Bisher haben wir stets erklärt, wir wollen die sozialdemokratische Gesellschaft herbeiführen unter Beseitigung der heutigen bürgerlichen Gesellschaft und ihres politischen Oberbaues, des heutigen Staates. Zu diesem Zweck suchen wir alle Mittel und Vorteile zu erobern, um uns den Kampf für dieses Ziel zu erleichtern. Das Ziel in seiner Gesamtheit ist die Hauptsache und das andere Nebensache ... Vollmar erklärt umgekehrt das große allgemeine Ziel als das vorläufig Nebensächliche und als Hauptsache die nächsten praktischen Forderungen, die wir zu erreichen haben. Das ist ein so prinzipieller Gegensatz, wie er schärfer gar nicht gedacht werden kann und worüber Klarheit zu schaffen allerdings die Aufgabe des Kongresses ist.“[1]

Hier haben wir die Gegensätze zwischen der parteiüblichen und der opportunistischen Auffassung klar und deutlich formuliert.

Ihr Kernpunkt liegt in der gegenseitigen Stellung des Endziels und des praktischen Kampfes.

Indem wir für politische Freiheiten oder soziale Reformen bloß als Vorstufen zur Ergreifung der Staatsgewalt und zur Aufhebung der heutigen Gesellschaft kämpfen, so ist uns in diesem Kampfe das Endziel das herrschende, bestimmende Moment, und der ganze Kampf trägt deshalb einen grundsätzlich oppositionellen Charakter. Wir gebrauchen deshalb in diesem Kampfe bloß solche Mittel, die sich mit unserer unversöhnlichen Stellung zur heutigen Gesellschaft vertragen, und wir benutzen ferner den Kampf selbst vor allem zu einer sozialistischen Aufklärung der Arbeiterschaft.

Vom Standpunkte des Opportunismus sieht das alles umgekehrt aus. Wenn man jede politische und soziale Reform schon für eine stückweise Verwirklichung des Sozialismus, also schon für den Zweck des Kampfes hält, so erscheinen alle Mittel, die zu diesem Zwecke führen, gleich gut. Dann ist es gleich, ob man ein Volksrecht durch die Abgabe der Stimmen an eine reaktionäre Partei oder durch die Bewilligung von Kanonen oder durch ein beliebiges anderes Mittel erzielt. Einerseits erscheint dabei die sozialistische Aufklärung der Massen ganz überflüssig, denn wozu noch vom Sozialismus „reden“, wenn wir ihn gleich mit jedem Tag verwirklichen. „Haben wir nichts Besseres zu tun, als daß wir in jeder einzelnen

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[1] Protokoll des Parteitages in Erfurt, 1891, S. 173 f. u. 274.