Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 522

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gegriffen und angefochten wird. Dieses Motiv tritt sehr klar bei den Genossen Vollmar und Schippel zutage. In Erfurt hat Bebel offen und ausdrücklich konstatiert, daß Vollmar zur Ableugnung seiner Ansichten und zu „Mißverständnissen“ gegriffen hat, nur um einer gegen ihn gerichteten scharfen Resolution zu entgehen.

Ein anderer Grund mehr allgemeiner Natur, der namentlich auf die Theorien Bernsteins Bezug hat, liegt an dem eigentümlichen Charakter dieser Theorien selbst. Ihre gefährlichste Seite besteht in ihren Konsequenzen, in dem, was sich aus ihnen für die Bewegung ergibt, wenn sie zur vollen Reife entfaltet werden. Alle Gegner Bernsteins in unserer Partei sind sich darüber einig, daß das allgemeine letzte Ergebnis seiner Auffassung der Bankrott des sozialistischen Klassenkampfes wäre. Aber vor diesen Konsequenzen schreckt Bernstein zurück. Er beteuert, daß er weder dieses Ergebnis wünscht noch auf dasselbe hinarbeitet. Und er hat im gewissen Sinne recht, nämlich im subjektiven Sinne. Es wäre Wahnsinn, Bernstein die Absicht zuzuschreiben, die Arbeiterbewegung vernichten zu wollen. Im Gegenteil, er glaubt ihr aufs beste mit seiner Auffassung zu dienen. Es kommt jedoch nicht darauf an, was Bernstein denkt und will, sondern was sich objektiv, abgesehen von seiner Person, aus seinen Theorien ergibt. Die Tatsache, daß Bernstein die Konsequenzen seiner Auffassung nicht ziehen will oder sie nicht sieht und auf halbem Wege stehenbleibt, ist die Quelle von zahlreichen Mißverständnissen geworden. Aber nicht auf seiten derjenigen liegt das Mißverständnis, die das Versteckte in seinen Theorien hervorkehren und ihn als einen Abtrünnigen bekämpfen, sondern umgekehrt auf seiten derjenigen, die seine Worte und Beteuerungen für beweiskräftig halten und in seinen Theorien „nichts Neues“ vom Standpunkte der Parteigrundsätze sehen. Dies ist namentlich bei manchen Genossen aus den Arbeiterkreisen der Fall, die nicht Zeit und Möglichkeit haben, über die weiteren Konsequenzen der Bernsteinschen Auffassung nachzudenken oder den wahren Sinn seiner Äußerungen, auch wenn er dieselben Worte wie die Partei gebraucht, aus dem ganzen herauszubringen. Das Mißverständnis spielt also tatsächlich bei der Beurteilung der opportunistischen Theorien eine große Rolle, nur in einem umgekehrten Sinne, wie das bis jetzt angenommen wird: Nicht aus Mißverständnis werden Bernstein und seine Anhänger bekämpft, sondern aus Mißverständnis werden sie von vielen verteidigt. Und es ist Aufgabe des Parteitags, die Mißverständnisse in bezug auf den Opportunismus in diesem Sinne aufzuklären.

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