Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 499

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kratie und für das Zentrum anwenden. Die Masse der Wähler kann nämlich ebensogut aus dem Kompromiß schließen, daß der Teufel Zentrum nicht so arg sei, wie ihn die Sozialdemokratie bis jetzt gemalt hat, da sie ihm doch selbst zur Mehrheit verholfen hat. Und ferner dürfte die gewaltige Agitation gegen das Zentrum, die nun die verstärkte sozialdemokratische Fraktion vorhat, in den Augen der Zentrumswähler aus der Masse, die einfache Menschen, nicht geriebene Staatsmänner sind, die Sozialdemokratie leicht als eine verlogene, doppelzüngige Partei erscheinen lassen, die erst ihren Gegnern zur Herrschaft verhilft und dann diese Herrschaft brandmarkt und bekämpft.

Das wichtigste Argument ist aber: der durch die Ergebnisse der Landtagswahlen dem jetzigen Wahlrecht versetzte Todesstoß. Das heutige Wahlsystem wurde nach Vollmar „zur gründlichen Erschütterung des bestehenden Wahlverfahrens nutzbar gemacht“. Worin besteht diese Erschütterung? Darin, daß „der Schrecken und die Trauer der Liberalen über ihre ebenso unerwartete wie wohlverdiente Niederlage sowie die naheliegende Erkenntnis beim Zentrum, daß bei einem längeren Fortbestehen des jetzigen Wahlunrechts auch ihm einmal Gleiches widerfahren könnte“, den Landtag dazu treiben werde, „die so lange zurückgehaltene Wahlreform endlich in Gang zu bringen“.

Hier wird wiederum für die Wahlreform etwas zu viel geleistet worden sein. Denn die Reform soll nun im gleichen Maße von den Liberalen, denen das Wahlmanöver eine gründliche Niederlage bereitet, wie von dem Zentrum, dem es eine absolute Mehrheit gesichert hat, in Gang gebracht werden. Vorausgesetzt, daß beide Parteien tatsächlich aus dem letzten Wahlvorgang zu einer Wahlreform Anlaß nehmen, nach welcher Richtung kann sie vorgenommen werden? Offenbar und nach eigenen Worten Vollmars nur nach der, daß das Zentrum seine Herrschaft von den Stimmen der Sozialdemokratie unabhängig zu machen, der Liberalismus aber sich vor den Schlägen der Sozialdemokratie zu hüten suchen wird. In den beiden Fällen kann es nur darauf ankommen, die Aussichten der Sozialdemokratie bei den Wahlen zu vermindern und nicht zu vergrößern.

Aber – bei der Überfülle von Erfolgen – die Wahlreform soll ja noch auf drittem Wege, durch eigene Tätigkeit der nun verstärkten sozialdemokratischen Fraktion vorwärtsgetrieben werden. Diese Aussicht erscheint tatsächlich als die einzige stichhaltige bei der Wahlreformfrage. Allein, welche Rolle spielt dabei die verstärkte Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten? Als behauptet wurde, die sozialdemokratische Fraktion hätte in dem letzten Landtag ihre Bedeutung dem gegenseitigen Zahlen-

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