Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 48

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Fabrikindustrie zu leiden. Diese kapitalschwachen und bankerottierenden Kleinbürger mit den rückständigsten Produktionsmethoden haben allerdings Ursache, mit der bestehenden Ordnung der Dinge unzufrieden zu sein. Ebenso natürlich ergab sich die Form, in der sich diese Unzufriedenheit Luft macht. Da die Großindustrie ein Kind der russischen Annexion ist, so wurde das von ihr zermalmte Kleinbürgertum zum Adoptivvater der verwaisten nationalen Bestrebungen.

Das Bauerntum hat überhaupt keine politische Physiognomie. Die russische Regierung hat aber auf jeden Fall bei der „Bauernbefreiung“ zwischen ihm und dem Adel einen Keil in der Form der „Servituten“ (Nutzungsrecht der Bauern in adeligen Wäldern) eingeschoben, die eine nie versiegende Quelle von Zwist und Hader zwischen beiden bilden und eine Aussöhnung der feindlichen Brüder bis auf heute zu einer Unmöglichkeit machen. Insofern der Bauer eine politische Physiognomie haben könnte, so ist sie auch heute: der traditionelle Haß und das Mißtrauen zu jeder nationalen Bewegung als zu einem „adeligen Schwindel“ und die stumpfsinnige, bäuerlich verbohrte Anhänglichkeit an die russische Regierung – die vermeintliche Erlöserin des Bauern aus der adeligen Hölle.

Endlich – die bürgerliche „Intelligenz“. Diese kleine, aber in Ländern ohne politische Freiheit viel Lärm machende Schicht rekrutiert sich in Polen zum größten Teil aus dem verarmten Adel und dem Kleinbürgertum. In der Schule wird sie schon durch das bestialische System der Russifikation aufgebracht und national gesinnt. Später sieht sie sich die Hauptkarrieren – die Wissenschaft, den Staatsdienst, den höheren Militärdienst – verschlossen. Darum schwärmt ein Teil der bürgerlichen „Intelligenz“ in einem bestimmten Lebensalter für das Vaterland und ballt gewaltig die Fäuste in den Taschen gegen die Moskowiter Tyrannei. Desto mehr sieht sie sich aber darauf angewiesen, in den sogenannten bürgerlichen Berufen, also in direktem Dienste bei der Industrie und der Bourgeoisie, ein Unterkommen zu suchen, und dank der immer steigenden Entfaltung der Industrie findet sie noch ein solches in reichlichem Maße. Sobald der „intelligente“ Jüngling als fertiger Mann solcherweise in der bürgerlichen Gesellschaft festen Fuß faßt, übernimmt er die politische Physiognomie derselben und wird „vernünftig“ und „solid“.

Dies ein ungefähres Bild der jetzigen polnischen Gesellschaft. Durch kapitalistische Lebensadern mit Rußland verbunden, weist sie nur zwei Elemente auf, die einen nationalen Anstrich haben: den schon heruntergekommenen und dem Untergang geweihten Teil des Kleinbürgertums und den noch nicht emporgekommenen Teil der „Intelligenz“ – beide in der

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