Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 454

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/454

eigentlich der Unterschied zwischen der Schippelschen und der parteiüblichen Auffassung der Frage liegt. Wir betrachten den Militarismus, wie er leibt und lebt, als eine natürliche und unvermeidliche Blüte[1] der gesellschaftlichen Entwicklung – Schippel auch. Wir behaupten, daß der Militarismus in seiner Entwicklung zum Volksheer führt – Schippel auch. Wo ist denn der Unterschied, der Schippel zu seiner reaktionären Opposition gegen die Milizforderung führen konnte? Er ist sehr einfach: Während wir mit Engels in der eigenen inneren Entwicklung des Militarismus zur Miliz bloß die Bedingungen zu seiner Aufhebung sehen, meint Schippel, daß das Volksheer der Zukunft auch von selbst; „von innen heraus“ aus dem heutigen Militärsystem herauswachse. Während wir, gestützt auf diese uns von der objektiven Entwicklung gebotenen materiellen Bedingungen – die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht und die Verkürzung der Dienstzeit –, durch den politischen Kampf die Verwirklichung des Milizsystems durchsetzen wollen, verläßt sich Schippel auf die eigene Entwicklung des Militarismus mit seinen Folgeerscheinungen und stempelt jedes bewußte Eingreifen zur Herbeiführung der Miliz als Phantasie und Bierbankpolitik.

Was wir auf diese Weise bekommen, ist nicht die Engelssche Geschichtsauffassung, sondern die Bernsteinsche. Wie bei Bernstein die kapitalistische Wirtschaft von selbst, ohne Sprung, schrittweise in die sozialistische „hineinwächst“, so wächst bei Schippel aus dem heutigen Militarismus von selbst das Volksheer heraus. Wie Bernstein in bezug auf den Kapitalismus im ganzen, so versteht Schippel in bezug auf den Militarismus nicht, daß die objektive Entwicklung uns bloß die Bedingungen einer höheren Entwicklungsstufe an die Hand gibt, daß aber ohne unser zielbewußtes Eingreifen, ohne den politischen Kampf der Arbeiterklasse um die sozialistische Umwälzung oder um die Miliz weder die eine noch die andere je verwirklicht wird. Da aber somit das bequeme „Hineinwachsen“ bloß eine Chimäre, eine opportunistische Ausflucht ist, um dem zielsicheren revolutionären Kampfe aus dem Wege zu gehen, so schrumpft auch die auf diesem Wege erreichbare soziale und politische Umwälzung auf elendes bürgerliches Flickwerk zusammen. Wie bei der Bernsteinschen Theorie der „allmählichen Sozialisierung“ schließlich aus dem Begriff des Sozialismus selbst alles verschwindet, was wir darunter verstehen, und der Sozialismus zur „gesellschaftlichen Kontrolle“, d. h. zu harmlosen bürgerlichen Sozialreformen wird, so verwandelt sich bei der Schippelschen Auffassung das „Volksheer“ aus dem freien, selbst über Krieg und Frieden entscheidenden

Nächste Seite »



[1] 2. Auflage: Frucht.