Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 451

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daß diese seltsame Behauptung die einfachsten wirtschaftlichen Tatsachen ignoriert. Wir wollen im Gegenteil zur Kennzeichnung dieser Auffassungsweise für einen Augenblick annehmen, daß diese verkehrte Behauptung Wahrheit ist, daß die „Gesellschaft“ tatsächlich durch den Militarismus von ihren überflüssigen Produktivkräften „entlastet“ wird.

Wie kann sich diese Erscheinung für die Arbeiterklasse gestalten? Offenbar so, daß sie einen Teil ihrer Reservearmee, der Lohndrücker, durch die Erhaltung des ständigen Heeres los wird und dadurch ihre Arbeitsbedingungen verbessert. Was bedeutet das? Nur dies: Der Arbeiter gibt, um das Angebot auf dem Arbeitsmarkte zu verringern, um den Wettbewerb zu beschränken, erstens einen Teil seines Lohnes in Gestalt von[1] Steuern her, um seinen Konkurrenten als Soldaten zu erhalten; zweitens schafft er aus diesem Konkurrenten ein Werkzeug, womit der kapitalistische Staat jede seiner Regungen zum Zwecke der Verbesserung seiner Lage (Ausstände, Koalition usf.) niederhalten, nötigenfalls im Blute ersticken, also dieselbe Aufbesserung der Lage des Arbeiters vereiteln kann, um derentwillen der Militarismus nach Schippel notwendig war. Drittens macht der Arbeiter diesen Konkurrenten zum sichersten Pfeiler der[2] Reaktion[3] überhaupt, also der eigenen sozialen Versklavung.

Mit anderen Worten: Der Arbeiter beugt durch den Militarismus einer unmittelbaren Verminderung seines Lohnes um einen gewissen Betrag vor, verliert aber dafür in hohem Maße die Möglichkeit, dauernd um die Hebung seines Lohnes und die Verbesserung seiner Lage zu kämpfen. Er gewinnt als Verkäufer der Arbeitskraft, verliert aber zugleich die politische Bewegungsfreiheit als Bürger, um in letzter Linie auch als Verkäufer der Arbeitskraft zu verlieren. Er beseitigt einen Konkurrenten vom Arbeitsmarkte, um einen Hüter seiner Lohnsklaverei erstehen zu sehen, und verhütet eine Lohnherabsetzung, um sodann sowohl die Aussicht einer dauernden Aufbesserung seiner Lage als auch die Aussichten seiner endgültigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Befreiung zu vermindern. Das ist die tatsächliche Bedeutung der wirtschaftlichen „Entlastung“ der Arbeiterklasse durch den Militarismus. Hier wie bei allen Spekulationen der opportunistischen Politik sehen wir die großen Ziele der sozialistischen Klassenbefreiung kleinen praktischen Augenblicksinteressen geopfert; Interessen, die sich obendrein bei näherem Zusehen als wesentlich eingebildet erweisen.

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[1] 2. Auflage: eingefügt „indirekten“.

[2] 2. Auflage: eingefügt „politischen“.

[3] 2. Auflage: eingefügt „im Staate“.