Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 413

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hältnis der Kämpfenden, also das bloße Moment der Gewalt entscheidet. Hier fällt der überall den Blanquismus witternde Bernstein zur Abwechslung selbst in das gröbste blanquistische Mißverständnis zurück. Allerdings wieder mit dem Unterschied, daß die Blanquisten als eine sozialistische und revolutionäre Richtung die ökonomische Durchführbarkeit des Sozialismus als selbstverständlich voraussetzten und auf sie die Aussichten der gewaltsamen Revolution sogar einer kleinen Minderheit gründeten, während Bernstein umgekehrt aus der zahlenmäßigen Unzulänglichkeit der Volksmehrheit die ökonomische Aussichtslosigkeit des Sozialismus folgert. Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel ebensowenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit wie von dem zahlenmäßigen Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit und der Einsicht in diese Notwendigkeit ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse führt und die sich vor allem in der kapitalistischen Anarchie äußert.

Was diese letzte entscheidende Frage der Anarchie in der kapitalistischen Wirtschaft anbetrifft, so leugnet Bernstein selbst bloß die großen und allgemeinen Krisen, nicht aber partielle und nationale Krisen. Er stellt somit bloß sehr viel Anarchie in Abrede und gibt gleichzeitig die Existenz von ein wenig Anarchie zu. Der kapitalistischen Wirtschaft geht es bei Bernstein wie – um einmal auch mit Marx zu reden – jener törichten Jungfer mit dem Kinde, das „nur ganz klein“ war. Das Fatale bei der Sache ist nun, daß in solchen Dingen wie der Anarchie wenig und viel gleich schlimm ist. Gibt Bernstein ein wenig Anarchie zu, so sorgt der Mechanismus der Warenwirtschaft von selbst für die Steigerung dieser Anarchie ins ungeheure – bis zum Zusammenbruch. Hofft Bernstein aber – unter gleichzeitiger Beibehaltung der Warenproduktion – auch das bißchen Anarchie allmählich in Ordnung und Harmonie aufzulösen, so verfällt er wiederum in einen der fundamentalsten Fehler der bürgerlichen Vulgärökonomie, indem er die Austauschweise von der Produktionsweise als unabhängig betrachtet.[1]

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[1] Bernstein antwortet zwar auf einige Punkte unserer ersten Artikelreihe in der „Leipziger Volkszeitung“ ziemlich breit, aber in einer Weise, die bloß seine Verlegenheit verrät. Er macht sich z. B. die Antwort auf unsere Kritik seiner Krisenskepsis dadurch leicht, daß er uns einredet, die ganze Marxsche Krisentheorie zur Zukunftsmusik gemacht zu haben. Dies ist aber eine höchst freie Auslegung unserer Worte, denn wir erklärten nur die regelmäßige, mechanische Periodizität der Krisen, genauer: den zehnjährigen Krisenzyklus für ein nur dem völlig entwickelten Weltmarkt entsprechendes Schema. Was den Inhalt der Marxschen Krisentheorie betrifft, so erklärten wir ihn für die einzige wissenschaftliche Formulierung des Mechanismus wie der inneren ökonomischen Ursachen aller bisherigen Krisen.

Noch wundersamer sind die Antworten Bernsteins auf andere Punkte unserer Kritik. Auf den Hinweis z. B., die Kartelle könnten schon aus dem Grunde kein Mittel gegen die kapitalistische Anarchie bieten, weil sie – wie die Zuckerindustrie zeigt – bloß eine verschärfte Konkurrenz auf dem Weltmarkt erzeugten, auf diesen Hinweis antwortet Bernstein, dies sei zwar richtig, aber die verschärfte Zuckerkonkurrenz in England habe ja eine mächtige Fabrikation von Marmeladen und von Eingekochtem ins Leben gerufen (S. 78). Eine Antwort, die uns an die Konversationsübungen im ersten Teil der Ollendorfschen Sprachmethode für den Selbstunterricht erinnert: „Der Ärmel ist kurz, aber der Schuh ist eng. Der Vater ist groß, aber die Mutter hat sich schlafen gelegt.“

In ähnlich logischem Zusammenhang antwortet Bernstein auf unsere Beweisführung, daß auch der

Kredit kein „Anpassungsmittel“ gegen die kapitalistische Anarchie sein könne, weil er vielmehr

diese Anarchie noch steigere: der Kredit habe ja neben der zerstörenden auch noch eine positive,

,.herstellend-schöpferische“ Eigenschaft, die auch Marx anerkannt habe. Für denjenigen, der, auf der Marxschen Theorie fußend, in der kapitalistischen Wirtschaft überhaupt alle positiven Ansätze für die künftige sozialistische Umwandlung der Gesellschaft sieht, ist dieser Hinweis auch in bezug auf den Kredit nicht gerade neu. Worum es sich in der Debatte handelte, war die Frage, ob diese positive, über den Kapitalismus hinausführende Eigenschaft des Kredits in der kapitalistischen Wirtschaft auch positiv zur Geltung komme, ob sie die kapitalistische Anarchie bezwingen könne, wie Bernstein behauptete, oder vielmehr selbst in eines Widerspruch ausarte und die Anarchie nur noch vergrößere, wie wir gezeigt haben. Der Hinweis Bernsteins wiederum auf die „herstellend-schöpferische Fähigkeit des Kredits“, die ja den Ausgangspunkt der ganzen Debatte bildete, ist angesichts dessen bloß eine „theoretische Flucht ins Jenseits“ – des Diskussionsfeldes. [Fußnote im Original]