Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 40

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internationale Arbeiterbewegung wie auch für das polnische Proletariat gleich notwendige politische Forderung bildet.“[1]

Die erste Erwägung dieser Resolution gehört zu jenen Gemeinplätzen, aus denen sich absolut nichts Praktisches ableiten läßt. Bezeichnenderweise ist sie ganz gleichlautend mit der Begründung der bekannten holländischen Resolution, betreffend den Militärstreik: „In Erwägung, daß die nationalen Gegensätze keineswegs im Interesse des Proletariats, wohl aber in dem der Unterdrücker desselben liegen; in Erwägung, daß alle modernen Kriege ausschließlich durch die kapitalistische Klasse in deren Interesse hervor-gerufen“[2] werden, so soll man den Krieg durch den Militärstreik aus der Welt schaffen. Beide Resolutionen, die holländische und die sozialpatriotische, sind in dem naiven Glauben befangen, daß es genügt, etwas als für das Proletariat „verderblich“ und für die Despoten nützlich zu erklären, um das Übel unmittelbar beseitigen zu können. Beide wollen eine im Wesen des Kapitalismus wurzelnde Erscheinung – den Krieg und die Annexion – ohne denselben, weil im Rahmen desselben, aufheben.

Die zweite Erwägung ist ein Trugschluß. Weder seine innere Kraft noch seine äußere Bedeutung schöpft der Zarismus aus der Teilung Polens. Die gegenwärtige Existenzbasis des Absolutismus sind die Überreste der rückständigen sozialen Verhältnisse auf dem Lande: der bäuerliche Gemeindebesitz und die vorläufige Anpassung des absoluten Regimes an die Bedürfnisse des wachsenden Kapitalismus. Seine diplomatische Bedeutung verdankt Rußland der Rolle, die es in der orientalischen Frage spielt, seiner Stellung in Asien, vor allem aber der durch die Annexion Elsaß-Lothringens geschaffenen politischen Lage in Europa.[3] Alle diese inneren und äußeren Verhältnisse bestehen unverändert mit wie ohne Polen. Denkt man von dieser Seite dem Absolutismus den Garaus zu machen, so gibt man sich unseres Erachtens einer hoffnungslosen Illusion hin.

Jedoch wir nehmen gerne für einen Augenblick an, daß die Teilung Polens wirklich den Lebensnerv des Zarismus bildet. Was kann das Proletariat dagegen ausrichten? Nach der Resolution soll es die Wiederherstellung Polens fordern. Jedoch durch das bloße Fordern und durch friedliche Kundgebungen kann Polen nicht wiederhergestellt werden. Die herrschen-

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[1] Sprawa Robotnicza, Nr. 24, Juni 1896. In: Socjaldemokracja Królestwa Polskiego i Litwy, Warschau 1957, S. 453.

[2] Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in der Tonhalle Zürich vom 6. bis 12. August 1893, Zürich 1894. S. 25.

[3] Die Annexion Elsaß-Lothringens durch Deutschland 1871 rief in Frankreich eine verstärkte Revanchepolitik gegen Deutschland hervor und führte zur Annäherung Frankreichs an Rußland. Der Konflikt trug wesentlich zur Herausbildung von Militärblöcken in Europa bei.