Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 399

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Andererseits aber ist es doch nur die kapitalistische Gesellschaft, d. h. eine Gesellschaft, in der die kapitalistischen Interessen maßgebend sind, die sie[1] zum Ausdruck bringt. Die der Form nach demokratischen Einrichtungen werden somit dem Inhalte nach zum Werkzeuge der herrschenden Klasseninteressen. Dies tritt in greifbarer Weise in der Tatsache zutage, daß, sobald die Demokratie die Tendenz hat, ihren Klassencharakter zu verleugnen und in ein Werkzeug der tatsächlichen Volksinteressen umzuschlagen, die demokratischen Formen selbst von der Bourgeoisie und ihrer staatlichen Vertretung geopfert werden. Die Idee von einer sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eine Kalkulation, die[2] bloß mit der einen, formellen Seite der Demokratie rechnet, die andere Seite aber, ihren reellen Inhalt, völlig außer acht läßt. Und die Demokratie[3] im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbar sozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaft allmählich durchtränkt, wie Bernstein annimmt, sondern umgekehrt als ein spezifisch kapitalistisches Mittel[4], die kapitalistischen Gegensätze zur Reife und zur Ausbildung zu bringen.

Angesichts dieser objektiven Entwicklung des Staates verwandelt sich der Satz Bernsteins und Konrad Schmidts von der direkt den Sozialismus herbeiführenden wachsenden „gesellschaftlichen Kontrolle“ in eine Phrase, die mit jedem Tage mehr der Wirklichkeit widerspricht.

Die Theorie von der stufenweisen Einführung des Sozialismus läuft hinaus auf eine allmähliche Reform [– in der Richtung auf sozialistische Ordnung –] des kapitalistischen Eigentums und des kapitalistischen Staates[5] Beide entwickeln sich jedoch kraft objektiver Vorgänge der gegenwärtigen Gesellschaft nach einer gerade entgegengesetzten Richtung. Der Produktionsprozeß wird immer mehr vergesellschaftet, und die Einmischung, die Kontrolle des Staates über diesen Produktionsprozeß wird immer breiter. Aber gleichzeitig wird das [kapitalistische] Privateigentum immer geschlossener und unantastbarer[6], und die staatliche Kontrolle wird immer mehr von ausschließlichen Klasseninteressen durchdrungen. Indem somit der Staat, d. h. die politische Organisation, und die Eigentumsverhältnisse, d. h. die rechtliche Organisation des Kapitalismus, mit der Entwicklung immer kapitalistischer und nicht immer sozialistischer werden,

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[1] 2. Auflage: er.

[2] 2. Auflage: eingefügt „ganz im Geiste des bürgerlichen Liberalismus“.

[3] 2. Auflage: Und der Parlamentarismus.

[4] 2. Auflage: ein spezifisches Mittel des bürgerlichen Klassenstaates.

[5] 2. Auflage: eingefügt „im sozialistischen Sinne“.

[6] 2. Auflage: immer mehr zur Form der nackten kapitalistischen Ausbeutung fremder Arbeit.