Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 329

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öffentliche Unterstützung an bestimmte Bedingungen, wie nachweislich gänzliche Erwerbsunfähigkeit, dreijährigen Aufenthalt in der Hauptstadt, französische Nationalität etc., geknüpft, die nicht von allen Bedürftigen erfüllt werden können, zweitens müßte noch die Zahl der auf private Wohltätigkeit Angewiesenen in Berechnung gezogen werden. Einen Begriff von dem tatsächlich herrschenden Elend gibt u. a. die Zahl derjenigen, die die städtischen nächtlichen Herbergen benutzen, und die z. B. im Jahre 1896 in Paris zirka 200 000 betrug!

Was wir in Paris sehen, ist in jeder anderen modernen Großstadt der Fall. Die Zahl der Opfer der kapitalistischen Entwicklung, der Proletarier, die nicht mehr die Gesellschaft erhalten, sondern sich von ihr erhalten lassen müssen, ist tatsächlich eine ungeheuere, sie ist viel größer, als man, theoretisierend oder die soziale Oberfläche betrachtend, anzunehmen pflegt. Für den revolutionären Kampf der Arbeiterklasse sind diese verelendeten Elemente nicht nur keine Stütze, sondern geradezu ein Hemmschuh, indem sie meistens für anarchistische Konfusion die geeignete soziale Grundlage schaffen. Aber als soziales Symptom ist diese Erscheinung ein Todesurteil für die kapitalistische Wirtschaft. Eine Ordnung, die zu ihrer normalen Existenzbedingung die gänzliche Verelendung von Hunderttausenden Arbeitenden in jeder Großstadt, also Millionen in jedem großen kapitalistischen Staat, macht, bezeugt dadurch unwiderleglich, daß sie eine Abnormität, ein Wahnsinn, daß sie mit dem Fortbestand der Gesellschaft unvereinbar ist.

Daß aber diese stets wachsende Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten von der heutigen Ordnung untrennbar ist, beweist das Fehlschlagen aller Versuche, dieser Erscheinung entgegenzuarbeiten. Auch die Statistik der öffentlich Unterstützten in Paris nach ihrem heimatlichen Ursprung zeigt den heute überall bekannten Zug vom Lande in die Stadt. Von den 50 000 dauernd Unterstützten stammen über 36 000 aus der Provinz. Um einen Gegenstrom von der Stadt auf das Land künstlich zu schaffen, wurde vor einigen Jahren in Chalmelle (Departement der Marne) eine Arbeitsnachweisanstalt gegründet, die nach Paris zugewanderte verarmte ländliche Arbeiter aufnimmt und sie wieder in der Landwirtschaft zu plazieren sucht, wobei sie sogar die Arbeitssuchenden vorläufig auf eigenen Äckern beschäftigt. Und was ist das Ergebnis? Von Jahr zu Jahr wird die Wirkung der Anstalt winziger. Im Jahre 1895/1896 wurden im ganzen 93 Arbeiter von der Anstalt aufgenommen, davon nur 61 plaziert, und alle diese Stellenbeglückten sind bereits aus ihren Stellen fortgelaufen, sogar auf den verdienten Lohn verzichtend! Eine Erfahrung,

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