Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 268

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und entwicklungsfähig ist, als daß die Arbeiterklasse in absehbarer Zukunft ihre Grundfesten erschüttern könnte. Das heutige Frankreich bietet ein Bild, das zu gerade entgegengesetzten Schlüssen führt. In Frankreich ist die Herrschaft der Bourgeoisie bereits in einer solchen Zersetzung begriffen, daß sie schon jetzt die normale Existenz der Gesellschaft bedroht und das soziale Leben in eine schleichende Krise verwandelt. In Frankreich haben wir ein Land, wo die bürgerliche Gesellschaft nicht zu langsam, sondern zu rasch in Verfall kommt, wo nicht die politische Entwicklung des Proletariats dem sozialen Verfall der Bourgeoisie, sondern umgekehrt der Verfall der Bourgeoisie der Entwicklung des Proletariats vorauseilt. Wir sehen in Frankreich nicht eine politisch reife Arbeiterklasse, die angesichts der Stärke und Unerschütterlichkeit der bürgerlichen Ordnung nicht imstande ist, das Steuer des politischen Lebens in die Hand zu nehmen, sondern, umgekehrt, eine völlig zerrüttete bürgerliche Gesellschaft, deren Steuer auf eine kräftige und entschlossene Hand wartet, während die Arbeiterklasse nicht entfernt zahlreich, organisiert und aufgeklärt genug ist, um sich der Lage zu bemächtigen. Das Schablonisieren in den Fragen der allgemeinen bürgerlichen Entwicklung erweist sich also als grundfalsch. Wenn England durch die Festigkeit seiner bürgerlichen Einrichtungen imponieren kann, so muß Frankreich durch seine verfrühte bürgerliche Zersetzung Grauen erregen.

Es läßt sich aber aus der heutigen Lage in Frankreich noch eine andere Lehre ziehen. Gerade dieses verfallende Land, für das die bürgerliche Ordnung schon heute zur Existenzgefahr geworden ist, das schon jetzt in dem Circulus vitiosus der Zersetzung wie ein steuerloses Schiff umherirrt, ist von den großen westeuropäischen Ländern dasjenige, wo die Großindustrie noch am wenigsten Fortschritte getan, wo das Kleingewerbe und der Mittelstand noch am stärksten sind. Würde man die sozialen Geschicke Frankreichs bloß nach seiner Gewerbestatistik entziffern, so müßte man zu dem Schlusse gelangen, daß Frankreich erst in den Anfängen seiner bürgerlichen Entwicklung steht, daß ihm noch eine kolossale Strecke gesunden, kräftigen Aufschwungs bevorsteht. Die Tatsachen schlagen aber diesem Schlusse ins Gesicht und beweisen, daß das Urteilen über die großen Linien der Entwicklung einer Gesellschaft auf Grund einiger trockener Ziffern toter Doktrinarismus ist, der nie das Ganze, das Mannigfaltige, das Komplizierte des gesellschaftlichen Lebens zu umfassen imstande ist. Gerade das heutige Frankreich beweist, daß auf das Tempo der bürgerlichen Entwicklung neben rein ökonomischen Faktoren auch politische, geschichtliche in so hervorragendem Maße einwirken, daß

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