Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 262

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Wir geraten damit in eine wundersame Lage. Einerseits haben wir in Deutschland Meinungsverschiedenheiten in der Sozialdemokratie, die einer Erklärung durch soziale Verhältnisse bedürfen, und in irgendeinem anderen Lande haben wir soziale Verhältnisse, die diese Richtung vorzüglich erklären könnten, die aber leider für Deutschland nicht passen.

Angesichts dieser neuen Wendung gestehen wir allerdings zu, daß wir dem Genossen „gr.“ eine Unterstellung gemacht haben. Wir haben ihm nämlich in seinen Ausführungen einen Sinn unterstellt, indem wir annahmen, daß er die Parteirichtungen in Deutschland, wenn auch irrtümlich, wenigstens durch soziale Verhältnisse Deutschlands erklären wollte, der gute Mann hat aber, wie es sich herausstellt, seine zwei Schichten des Proletariats in einem ganz anderen Lande ausfindig gemacht. Freilich, die Theorie selbst, auf die „gr.“ nunmehr einzugehen vermeidet, wird dadurch nicht stichhaltiger, und wir überlassen dem Genossen „gr.“, mit sich selbst abzumachen, ob er die taktischen Meinungsdifferenzen der deutschen Sozialdemokratie durch zwei Schichten des deutschen Proletariats erklären wollte und damit einen theoretischen Irrtum, oder ob er sie durch Verhältnisse erklären wollte, die in Deutschland gar nicht existieren, und somit obendrein einen logischen Unsinn begangen hat.

„gr.“ hat eine eigenartige Methode, sich in der Diskussion unverletzlich zu machen: Er hat über jedes Ding nicht eine Meinung, wie die meisten Menschen, sondern mehrere Meinungen auf einmal, und man kann nie irgendeine seiner Äußerungen in der Diskussion fixieren, ohne daß er nicht in der Lage wäre, zur Deckung sofort eine entgegengesetzte Äußerung heranzuziehen. So wird es uns z. B. um keinen Preis der Welt gelingen, aus den Ausführungen „gr.“s über den anderen Hauptpunkt der Diskussion klug zu werden, nämlich über die Frage: wie eigentlich die Dinge in der Partei in aller Welt liegen. Haben wir eine Opposition oder nicht? Haben wir eine oder zwei oder drei Richtungen in den Ansichten über die Taktik? Und worin bestehen die Unterschiede zwischen denselben?

Im ersten Artikel „gr.“s im „Vorwärts“ hieß es: „Gewiß, es gibt sehr große taktische Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei.“ In seinem zweiten Artikel[1] heißt es zunächst, er hätte überhaupt die Existenz einer „praktischen“ und einer revolutionären Richtung in Abrede gestellt. Einige Zeilen weiter erscheinen schon auf dem Platz wenigstens „einige Parteigenossen“, die die sozialistischen Ziele „mehr aus den Augen lassen“ und „kleinen Erfolgen“ „manchmal ein zu großes Gewicht beilegen“.

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[1] Erörterungen über die Taktik. In: Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), Nr. 248 vom 25. Oktober 1898.