Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 240

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tatsächlichen Machtverhältnissen.“[1] Das Ergebnis der Kompensationspolitik ist also immer, daß wir die Verhältnisse zu unseren Gunsten bloß auf dem Papier, zugunsten der Gegner aber in der objektiven Wirklichkeit verschieben, daß wir unsere Position im Grunde genommen schwächen, diejenige des Gegners aber stärken. Ich frage, ob man von einem Menschen, der das vorschlägt, behaupten kann, daß er in ernster Weise die Eroberung der politischen Macht erstrebt. Ich glaube, die Entrüstung, mit der Genosse Fendrich die Selbstverständlichkeit dieser Bestrebung betonte, war bloß irrtümlich an mich adressiert, sie richtete sich im Grunde gegen Heine; sie war nur der Ausdruck des schroffen Gegensatzes, in den sich Heine zu dem proletarischen Gewissen unserer Partei gesetzt hat; als er von einer Konzessionspolitik gegenüber dem kapitalistischen Staat zu sprechen wagte.

Dann die Äußerung von Konrad Schmidt, daß die Anarchie der kapitalistischen Herrschaft durch gewerkschaftliche Kämpfe und derartiges beseitigt werden könne. Wenn etwas zu dem Programmsatze von der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht Anlaß gegeben hat, so war es die Überzeugung, daß auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft für die Beseitigung der kapitalistischen Anarchie kein Kräutlein gewachsen. Jeden Tag wächst die Anarchie, die furchtbaren Leiden der Arbeiterklasse, die Unsicherheit der Existenz, die Ausbeutung, der Abstand zwischen arm und reich. Kann man von einem, der die Lösung durch kapitalistische Mittel herbeiführen will, behaupten, daß er die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse für notwendig hält? Also auch hier richtet sich die Entrüstung Fendrichs und Vollmars nicht gegen mich, sondern gegen Konrad Schmidt. Und dann die bewußte Äußerung in der „Neuen Zeit“: „Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles!“[2] Auch wer das sagt, steht nicht auf dem Standpunkt der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht. Sie sehen, daß manche Parteigenossen nicht auf dem Standpunkt des Endziels unserer Bewegung stehen, und darum ist es nötig, das zum klaren unzweideu-

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[1] „Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen, tatsächlichen Machtverhältnissen. die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind …“ (Ferd. Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, Berlin 1892, S. 497.)

[2] „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter ‚Endziel des Sozialismus’ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. In: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, Erster Band, S. 556.)