Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 23

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irgendwie bedeutende Rolle zugewiesen. Die betreffenden Tendenzen kamen höchstens hier und da in einigen Schwankungen und Inkonsequenzen zur Geltung. Dagegen ist z. B. die bisherige Teilnahme der Sozialisten Preußisch-Polens an der Wahlagitation sowie der energische Kampf der galizischen Partei für das allgemeine Wahlrecht offenbar nur auf Rechnung des ihnen mit den deutschen und österreichischen Genossen gemeinsamen Programms zu setzen und keineswegs als die praktische Betätigung der Forderung der Unabhängigkeit Polens zu betrachten. Bei der Erörterung der möglichen praktischen Folgen dieser Forderung wollen wir jedoch keineswegs den Propheten spielen. Es kommt uns nur darauf an, aus den Eigentümlichkeiten dieses Programms selbst die logischen Konsequenzen zu ziehen, unsere Schlußfolgerungen an dem bereits vorhandenen Tatsachenmaterial auf jedem Schritt prüfend.

Vor allem würde die tatsächliche Annahme der fraglichen Forderung auf die Organisationsbeziehungen rückwirken. Die Zugehörigkeit polnischer Sozialisten zur deutschen und österreichischen Gesamtpartei würde unmöglich werden, sobald sie sich ein besonderes politisches Programm geben. Und die Anhänger des sozialpatriotischen Programms sind sich dessen durchaus bewußt. Sie führen z. B. die bereits geschaffene Sonderorganisation der deutsch-polnischen Sozialisten eben als einen unumstößlichen Beweis und eine direkte Wirkung der Annahme der Forderung der Wiederherstellung Polens an, obwohl dies den Erklärungen der dortigen Sozialisten tatsächlich widerspricht. In derselben Weise werden die 1892 gemachten Vorbehalte der galizischen Genossen in bezug auf die Organisationsverbindung mit der österreichischen Partei von den Sozialpatrioten erklärt.[1]

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[1] Bulletin officiel, Nr. 1, S. 4: „Nos amis de ces deux parties de la Pologne (Galizien und Preußisch-Polen) ne peuvent pas arborer ouvertement leurs tendances séparatistes sans encourir des graves condamnations pour crime de haute trahison. Mais ils les ont suffisamment indiquées – au moins pour ceux, à qui ils s’adressent – par les réserves faites à propos de l’organisation du prolétariat polonais au congrès autrichien de 1893 par la constitution en Allemagne d’un Parti socialiste Polonais autonome et fédéré (?) seulement avec le parti allemand, au lieu d’une simple section de celui-ci, qui existait précédemment, et par les déclarations de son réprésentant au congrés de Cologne.“ Was das letztere speziell betrifft, so hat der polnische Delegierte Nikulski auf dem Kölner Parteitag nur erwähnt, seine Partei wolle die Unabhängigkeit Polens „im sozialistischen Sinne des Wortes“ anstreben. Daß diese Worte nur die Befreiung der polnischen Nation durch den Sieg des Sozialismus und keineswegs ein unmittelbares politisches Programm bedeuten konnten, beweist schon der Umstand, daß Nikulski gleichzeitig erklärte, die polnische Partei habe das Erfurter Programm beibehalten. Die Redaktion der Londoner sozialpatriotischen Zeitschrift „Przedświt“, der wir den Inhalt der Rede von Nikulski entnehmen (1893, Nr. 11. Im deutschen Protokoll des Kölner Parteitags ist sie nur abgekürzt wiedergegeben.), findet diese Äußerung des polnischen Delegierten, betr. das Erfurter Programm, ungenau. Uns kommt es jedoch hier nicht auf die Meinung dieser oder jener Redaktion an, sondern darauf, was der Delegierte wirklich erklären zu dürfen glaubte, und vor allem auf die Tatsache, daß die getane Äußerung von berufener Seite weder rektifiziert wurde noch auch rektifiziert werden konnte, da die polnischen Genossen in Deutschland auf ihren Konferenzen sich weder von dem Erfurter Programm losgesagt noch ein anderes Programm angenommen haben. Deshalb bleiben auch die Behauptungen des Bulletins mit den Tatsachen im Widerspruch. [Fußnote im Original]