Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 218

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geschuldet. Die Abhaltung öffentlicher Versammlungen war unmöglich und die ganze Agitation bloß auf Flugblätterverbreitung reduziert. Bei den Wahlen selbst war der Druck der Zentrumsleute und der Polizei so groß, daß bei dem einzelnen Arbeiter wirklich Mut dazu gehörte, einen sozialdemokratischen Stimmzettel abzugeben oder während der Wahl für uns zu wirken. Zahlreiche Kündigungen der Arbeit, einige Fälle von Verhaftungen unserer Flugblattverbreiter, vor allem aber die noch ganz patriarchalischen Mittel der Polizei und der Zentrumsleute in den Wahllokalen, wo sie vielfach unsere Genossen mit Zetteln einfach wegjagten, einigen Wählern den Zettel aus der Hand rissen und öffneten – alles dies sollte die Arbeiter von der Stimmabgabe für den sozialdemokratischen Kandidaten abschrecken.

Und trotz alledem war die Stimmung für unsere Partei so ausgezeichnet, daß in den letzten Tagen vor der Wahl das Zentrum im Industriebezirk keine einzige Wählerversammlung mehr abhalten konnte: Überall erwies sich die Masse der Anwesenden als Sozialdemokraten, die von den „Pfaffen“ nichts hören wollten und laut Protest gegen das Zentrum erhoben.

Soviel dürfte jedenfalls feststehen: Mit der bisherigen ungeteilten Herrschaft des Zentrums in Oberschlesien ist es für immer vorbei. Und das fühlen die schwarzen Herren selbst. „Die sozialistische Agitation hat in den Volksmassen tiefe Wurzeln gefaßt“, schreibt das polnische Organ des Zentrums, der Beuthener „Katolik“, vom 9. Juni. Die letzte Reichstagswahl wirkte tatsächlich als Luftreinigung in der dumpfen Atmosphäre des zweifach schwarzen Oberschlesiens. Sie rüttelte und wühlte die Volksmasse bis in die Tiefe auf, und man kann ohne die geringste Übertreibung behaupten, daß, falls unsere Partei es an entsprechender Agitation auch fernerhin nicht fehlen läßt, das Zentrum in dem oberschlesischen Industriebezirke zum letztenmal die Mandate erobert hat.

Was namentlich die bevorstehende Agitation betrifft, so ergeben sich aus den Erfahrungen der Reichstagswahl einige wichtige Fingerzeige für die Zukunft. Bis jetzt war die Arbeit verhältnismäßig leicht, weil sie sich auf ein bestimmtes konkretes und naheliegendes Ziel, auf die Wahlen richtete. Nun beginnt der viel schwierigere Teil – die ruhige, nicht sowohl in die Breite als in die Tiefe gehende unscheinbare Aufklärungsarbeit. Während kurz vor der Wahl einige zündende Flugblätter genügten, um die Masse aufzurütteln, werden jetzt andere Hilfsmittel – eine entsprechende Broschürenliteratur, vor allem ein Parteiblatt – wichtige, weil stete und nachhaltige Dienste zu leisten haben. Und da wird es an den pol-

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