Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 191

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bloß der konkrete Ausdruck der Förderung des russischen Kapitalismus im allgemeinen, da der Zentralrayon, wo beinahe ein Drittel der gesamten Reichsindustrie und ca. zwei Drittel der Textilindustrie (dem Werte nach) konzentriert sind, seinen Hauptstamm bildet. Die Kosten der erwähnten Bevorzugung der Moskowiter haben aber nicht sowohl die anderen Industrierayons des Reiches zu tragen, denen sie in den meisten Fällen, wie z. B. in der Zollpolitik, im Gegenteil gleichfalls zugute kommt, sondern vielmehr die anderen Zweige der Volkswirtschaft, vor allem die Agrikultur, wie denn auch die Feindschaft zwischen den russischen Agrariern und den Moskauer Industriellen eine viel dauerndere und erbittertere ist als zwischen Moskau und Łódź. Ein interessantes Schlaglicht auf die angeblich „nationale“ Politik der russischen Regierung wirft andererseits die bekannte Tatsache, daß am meisten gehätschelt und mit Begünstigungen – auf Kosten der essentiell russischen Metallindustrie des Urals wie der industriellen Interessen Moskaus – förmlich überschüttet wird gerade das südliche Kohlen- und Eisenrevier, dessen Ausbeutung sich zum größten Teil in den Händen Fremder – belgischer und englischer Kapitalisten – befindet.

Es ist ebenso oberflächlich wie irrtümlich, der russischen Regierung eine im ethnographischen Sinne nationale, „großrussische“ ökonomische Politik zuzuschreiben. Eine solche existiert nur in der Einbildung der durch den äußeren Schein irregeführten Berichterstatter. In der Tat führt die Zarenregierung – ebensogut wie jede andere heutzutage – nicht eine nationale, sondern eine Klassenpolitik, sie unterscheidet nicht polnische und russische Untertanen, sondern nur solche, die „gründen“ oder „besitzen“, und solche, die arbeiten.[1]

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[1] Da wir uns die Aufgabe gestellt haben, die Frage eingehend zu prüfen, so wollen wir noch die wenigen einschlägigen Äußerungen beleuchten, die wir nicht Gelegenheit hatten, im Text zu behandeln.

1. Hierher gehören vor allem die Auslassungen des Prof. Schulze-Gävernitz über die russische Zollpolitik: „Auch Kohlenzölle, welche den westlichen Grenzprovinzen das Brennmaterial verteuern, liegen im Interesse Moskaus.“ (Preußische Jahrbücher, l. c., S. 344.) Prof. Schulze-Gävernitz ist so mißtrauisch gegen alle handelspolitischen Maßnahmen Rußlands, daß er hier zu einem gerade entgegengesetzten Schluß gekommen ist, als er aller Evidenz nach hätte kommen sollen. Wenn die Kohlenzölle den polnischen Fabriken das Brennmaterial verteuern, so kommen sie in gleichem Maße den polnischen Kohlenwerken zugute. Der Zoll ist also jedenfalls nicht gegen Polen schlechthin, sondern gegen eine Kapitalistengruppe und zugunsten einer anderen gerichtet. Wie aber die Kohlenzölle im Interesse Moskaus liegen können, ist jedenfalls unerfindlich. Als industrieller Rayon, welcher seine Kohle aus anderen Rayons beziehen muß – denn vorläufig deckt die Naphtha, wie gezeigt, nur einen relativ kleinen Teil seines Bedarfs –, kann Moskau offenbar von der Verteuerung der Kohle kaum Vorteil ziehen. Die Folge der sog. „Kohlenkrise“ war auch, wie wir gesehen, die, daß der zentrale Rayon sich gezwungen sah, auch aus Polen Brennmaterial zu beziehen, natürlich zu entsprechend höheren Preisen, und daß die polnischen Kohlenwerke ihr Produkt massenhaft im Innern Rußlands abzusetzen begannen.

2. Herr S. G. in seiner „Industriellen Politik …“ (Neue Zeit, l. c., S. 790) erzählt unter anderem: „Die (russische – R. L.) Regierung ließ nicht lange auf sich warten (mit Maßregeln gegen die polnische Industrie – R. L.). Sie erhöhte zuerst die Gewerbesteuer in den polnischen Provinzen …“ Diese Behauptung ist wiederum, gelinde gesprochen, unbegründet. Die Verteilung aller staatlichen Abgaben auf die verschiedenen Rayons im russischen Reiche war 1887:

Rayons Anteil an der Gesamtsumme der Staats- abgaben Verhältnis der Abgaben zu dem wirt- schaftlichen Umschlag Öffentliche Abgaben pro Kopf der Bevölkerung
Gouv. St. Petersburg und Moskau 13,16% 4,26% 26,75 Rbl.
Südwestlicher 8,10% 8,47% 6,56 Rbl.
Kleinrußland 6,49% 6,25% 5,78 Rbl.
Schwarzerderayon 17,80% 7,73% 6,66 Rbl.
Zentr. Industrierayon 9,12% 5,95% 5,38 Rbl.
Baltischer 2,26% 3,50% 6,28 Rbl.
Nordwestlicher 6,08% 7,84% 4,59 Rbl.
Südlicher 8,43% 4,39%
Östlicher 11,30% 5,22% 5,05 Rbl.
Nördlicher 3,20% 6,51% 5,51 Rbl.
Kaukasus 1,20%
Asiat. Rußland 6,60%
Polen 6,05% 6,01% 5,64 Rbl.

(N. P. Jasnopolsky: Die geographische Verteilung der Staatseinnahmen, I, S. 131 u. 236.) Wie aus der Tabelle ersichtlich, ist in Rußland die Verteilung der öffentlichen Lasten nach den verschiedenen Rayons höchst ungleichmäßig, in manchen bedeutend niedriger, in anderen aber viel höher als in Polen, so daß von einer speziellen Steuerpolitik Polen gegenüber kaum die Rede sein kann. Freilich ist der polnische Grundbesitz bedeutend schwerer belastet als der russische, dies hänge aber mit ganz anderen Ursachen zusammen – u. a. mit den Freiheitskämpfen des polnischen Adels gegen die russische Regierung in der Vergangenheit – und steht jedenfalls mit der Frage der heutigen Gewerbepolitik Rußlands Polen gegenüber in keinem Zusammenhang. Was aber speziell die Besteuerung der Industrie betrifft, und auf diese kommt es im gegebenen Falle an, so war sie 1887, wie der „Bericht der Kommission zur Untersuchung …“, I, S. 47, zeigt, bedeutend niedriger als in den beiden russischen Hauptrayons. Das Verhältnis der Steuern zum Produktionswert war 1887:

Polen Gouv. Moskau Gouv. St. Petersburg
Baumwollindustrie 0,33% 6,64% 0,78%
Leinenspinnerei 0,27% 0,59%
Wollindustrie 0,28% 0,50% 1,00%
Metallindustrie 0,35% 0,61%

Der höhere Besteuerungsprozentsatz in Rußland läßt sich freilich durch verschiedene spezielle Umstände, u. a. durch den Besitz von Wäldern, Torfmooren, Arbeiterkasernen, Fabrikschenken etc., seitens der russischen Unternehmungen erklären. – Mit dem stetigen Anschwellen des russischen Budgets wurde 1893 auch die Gewerbesteuer erhöht, dies aber im ganzen Reiche ausnahmslos und gleichmäßig. Von speziellen Steuern, welche den Zweck hätten, die polnische Industrie in ungünstigere Bedingungen als die russische zu stellen, haben wir in all den Materialien, die uns zu Gebote standen, keine Spur gefunden.

3. Endlich berichtet noch derselbe Verfasser der „Industriellen Politik …“ (l. c., S. 790): Die Regierung „führte die sog. ‚differentiellen Tarife‘ ein, welche darin bestehen, daß die Waren, die aus Rußland nach Polen kommen, einen niedrigeren Eisenbahntarifsatz zu bezahlen haben als diejenigen. welche aus Polen nach Rußland transportiert werden. Durch die letzte Maßregel wurde wieder eine Zollgrenze zwischen Polen und Rußland eingerichtet.“ Auch diese Geschichte ist wieder nur eine Phantasieblüte des Verfassers. Derselbe hat augenscheinlich von der Einführung der differentiellen Tarife in Rußland etwas gehört, aber keine Gelegenheit gehabt zu erfahren, worin diese eigentlich bestehen. Das schreckliche Ding bedeutet aber nichts anderes als Tarife, welche für längere Strecken differentiell niedriger berechnet werden als für kürzere, und hat mit Polen speziell nicht das mindeste zu tun.

Der eigentliche Tatbestand, dessen Unkenntnis der obigen Behauptung des Herrn S. G. offenbar zugrunde liegt, ist folgender. Solange die Tarifpolitik in Rußland von den Eisenbahngesellschaften auf eigene Faust getrieben wurde, bestanden auf den Linien von der europäischen Grenze ins Innere des Landes spezielle niedrige Tarife für ausländische Waren. Bei der einheitlichen Regulierung des Transportwesens 1890 erblickte die Regierung in diesen niedrigen Grenztarifen vor allem eine direkte Durchbrechung der Schutzzollmauern zugunsten des Auslandes, daneben auch eine „ungerechtfertigte Tarifbegünstigung der Industrie der Grenzrayons (Polen und Ostseeprovinzen) im Verhältnis zu derjenigen des zentralen Rayons“ (bei Bezug ausländischer Waren). (Die Land- und Forstwirtschaft. S. 478.) Die Frachtsätze im Verkehr mit dem Auslande wurden auch mit denjenigen des inneren Verkehrs in Einklang gebracht. (l. c.) Die erwähnte Reform erstreckte sich, wie man sieht, nicht speziell auf Polen, sondern auf alle Grenzgebiete Rußlands, ebenso auf dasjenige am Schwarzen wie auch am Baltischen Meere, und verfolgte vor allem allgemeine protektionistische Zwecke. Der innere gegenseitige Warenverkehr Polens mit Rußland, von dessen Reform Herr S. G. erzählt, kam hier überhaupt auch nicht entfernt in Frage, denn worum es sich handelte, war bloß der direkte Verkehr der Reichsteile mit dem Auslande.

Übrigens bedurfte es, um die „differentiellen Tarife“, von denen Herr S. G. in so sicherem Tone zu berichten weiß, als eine freie Erfindung hinzustellen, nicht erst der Darlegung des ganzen wirklichen Vorgangs, den wir nur zur näheren Informierung des Lesers dargelegt haben. Die Behauptung des Herrn S. G. widerlegen zur Genüge die folgenden Zahlen: Der Tarif für Erzeugnisse der Textilindustrie (auf diese kommt es ja vor allem an) „von Łódź nach Moskau oder von Moskau nach Łódź betrug 60 Kopeken (nach dem neuen Tarif von 1893 91 Kopeken) pro Pud, von Łódź nach Odessa oder umgekehrt 67 (1893 84) Kopeken, von Moskau nach Odessa“ (also in Rußland selbst) „86 (1893 105) Kopeken, von Łódź nach St. Petersburg oder umgekehrt 62 (1893 79) Kopeken …“ (Nowosti, August 1893.) Die Tarife sind somit heute wie früher beim Warentransport von Polen nach Rußland ganz dieselben wie die, welche für gleiche Waren von Rußland nach Polen berechnet werden. Das Angeführte wirft das Räsonnement des Herrn S. G. mitsamt dem pomphaften Schluß von der „Wiedererrichtung der Zollgrenze zwischen Polen und Rußland“ über den Haufen. – Beim Abschied von dem von uns mehrmals zitierten Verfasser eine Bemerkung. Außer den hier kritisierten sind auch die meisten anderen Behauptungen und Angaben seines Artikels entweder direkt aus der Luft gegriffen oder verdreht. So bringt er es z. B. fertig, die Aufhebung der russisch-polnischen Zollgrenze, die, wie jeder Quartaner in Polen weiß, im Jahre 1851 erfolgt war, als eine direkte Folge des polnischen Aufstandes von 1863 zu erklären (l. c., S. 789) usw. Diese und alle anderen Verkehrtheiten sollten offenbar dartun, daß der polnische Kapitalismus unter den russischen Verfolgungen zugrunde gehe, woraus sich eine materielle Grundlage für die nationalpolnischen Bestrebungen ergebe. Ist auch die Methode, ein politisches Programm durch statistische Unrichtigkeiten zu begründen, an sich zweifellos verfehlt, so läßt sich jedoch nicht bestreiten, daß im gegebenen Falle diesen Verdrehungen ein sehr sympathisches Motiv zugrunde lag, nämlich der aufrichtige Wunsch des Verfassers, auch seinerseits zur Befreiung des Vaterlandes nach Kräften beizutragen. [Fußnote im Original]