Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 15

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diejenigen Preußisch- und Österreich-Polens, insofern dort schon vor 1890 von einer Arbeiterbewegung die Rede sein kann. Die Unabhängigkeit Polens stand, von einer sozialistischen Gruppe im Ausland, „Pobudka“[1], abgesehen, die mit der Arbeiterbewegung in keiner Berührung sich befand, einzig und allein im Programm derjenigen sehr schwachen bürgerlichen Richtung, die in Polen die patriotische genannt wird – wohlgemerkt nicht in dem in Westeuropa üblichen Sinne des Wortes, nicht im Sinne der privaten Vaterlandsliebe, sondern im Sinne eines bestimmten politischen, auf die Wiederherstellung eines polnischen Staates abzielenden Programms. Die Beziehungen zwischen dieser Richtung und der Arbeiterbewegung in Polen selbst lassen sich kurz durch das Schlagwort charakterisieren: hie Sozialismus, hie Patriotismus!

Die Verhältnisse blieben in der Hauptsache unverändert, als sich in Deutschland und Österreich eine organisierte sozialdemokratische polnische Bewegung[2] einbürgerte. Gleich bei ihrem ersten Auftreten (1890) haben sich die galizischen und deutsch-polnischen Sozialisten durchaus auf gemeinsamen politischen Boden mit der österreichischen bzw. deutschen Sozialdemokratie gestellt. Ein gemeinsames Programm – hier das Erfurter[3], dort das Hainfelder[4] –, eine gemeinsame Organisation, eine gemeinsame Taktik, das war die Stellung der polnischen Sozialisten in Deutschland wie in Österreich. Von speziellen politischen Aufgaben der polnischen Sozialisten, etwa mit Bezug auf die polnische Unabhängigkeit, war keine Rede.

Freilich machten sich schon sehr bald immer mehr sich akzentuierende Symptome bemerkbar, die geeignet waren, diese klaren Verhältnisse in nationalistischer Richtung zu trüben und zu verwirren.

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[1] Gemeint sind die Anhänger der Zeitschrift „Pobudka“, die von der polnischen Emigrantenorganisation Nationalsozialistische Gemeinde 1889 bis 1893 in Paris herausgegeben wurde. Mit ihrer Forderung nach einem republikanischen Nationalstaat wandten sie sich nur an die Intelligenz und lehnten den proletarischen Klassenkampf ab.

[2] Auf Initiative der deutschen Sozialdemokratie war im Dezember 1890 die Vereinigung polnischer Sozialisten in Berlin gegründet worden, die sich im September 1893 unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) des preußischen Teils von Polen konstituierte. Sie war bis 1903 ein autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In Lwów hatte im Januar 1892 ein Kongreß sozialistischer Gruppen und Arbeiterorganisationen stattgefunden, auf dem unter Führung von Ignacy Daszyński, Samuel Haecker u. a. die Galizische Sozialdemokratische Partei, auch Sozialdemokratische Partei Galiziens genannt, als Teil der österreichischen Sozialdemokratie geschaffen worden war.

[3] Auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie vom 14. bis 20. Oktober 1891 in Erfurt war ein marxistisches Parteiprogramm angenommen worden.

[4] Auf dem Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie vom 30. Dezember 1888 bis 1. Januar 1889 in Hainfeld war ein marxistisches Programm angenommen worden, auf dessen Grundlage sich verschiedene Gruppen der österreichischen Arbeiterbewegung zu einer revolutionären Partei zusammenschlossen.