Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 96

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höre ja zu Rußland, und beide Länder bilden ja ein einziges Ganzes.“[1] Und Rußland wiederholt im Jahre 1831 wie ein Echo: Die Polen wollen die Unabhängigkeit? „Was werden sie denn ohne einen Hafen am Meere, was ihre Industrie ohne den russischen Absatz anfangen?“[2] Nach der Niederwerfung des Aufstandes[3] bewirkt die protektionistische Partei Kankrins[4], welche die blinde Wut Nikolaus’ I. ausnutzt, eine Erhöhung der russischen Zollsätze gegenüber Polen. Die industrielle Ausfuhr nach Rußland sinkt rapid. Aber bald kehren 1833 die begünstigenden Zaren-Ukase wieder, und 1851 wird die Zollgrenze gänzlich aufgehoben, „hauptsächlich aus Motiven politischen Charakters ... Die Regierung suchte nach Mitteln, Polen mit Rußland möglichst fest zu vereinigen.“[5] Die historische Mission der Bourgeoisie, als Kette zwischen Rußland und Polen zu dienen, war ebenso für sie wie für Rußland von Anfang an klar.

Doch anfangs stützte sich die russische Herrschaft in Polen nicht auf die Bourgeoisie während des ersten halben Jahrhunderts. Inmitten des naturalwirtschaftlichen Polens Vertreterin einer ganz untergeordneten Produktionsform, ohne jeden Anhang im Volke, weil von außen hereingetragen und von der Regierung poussiert, selbst nur ein bunter Haufen aus allen Ländern zusammengelaufener zweifelhafter Existenzen: bankerotter deutscher Handwerker, jüdischer Wucherer, holländischer Glücksritter, belgischer „Industriegenies“, polnischer Abenteurer von dunkler Herkunft – ohne Vergangenheit und Tradition, fremd und verachtet im Lande, spielte die Bourgeoisie in dem adeligen Polen bis zu den sechziger Jahren selbständig gar keine Rolle. Das Polen bis zur Bauernreform[6], das war eben der Adel.

Wie die Bourgeoisie die verkörperte Abhängigkeit von Rußland und die Nationalitätlosigkeit, so war der auf eigenem Grund und Boden, auf seinen Fronhöfen lebende Adel die verkörperte Abgeschlossenheit, Unabhängigkeit Polens. Zu ihm hielt der katholische Klerus und das städti-

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[1] Gesuch des polnischen Finanzministers Lubedti an die russische Regierung im Jahre 1826. betr. die Interessen der polnischen Industrie. Dargelegt bei K. Lodyshenski: Geschichte des russischen Zolltarifs. St. Petersburg 1886, S. 220. [Fußnote im Original]

[2] Worte Nikolaus’ I. an den Grafen Jezierski. Zeitung „Merkur“, Nr. 54 vom 9. Februar 1831. [Fußnote im Original]

[3] Eine Militärrevolte vom 29. November 1830 in Warschau verwandelte sich in einen Volksaufstand gegen die zaristische Fremdherrschaft. Mit der Einnahme von Warschau am 7. September 1831 durch zaristische Truppen wurde der Aufstand niedergeworfen.

[4] J. F. Kankrin, von 1823 bis 1844 russischer Finanzminister, vertrat in der Zollpolitik den Protektionismus, der das chronische Defizit im Budget des feudalen Staates decken und damit der Entwicklung einer kapitalistischen Industrie entgegenwirken sollte.

[5] Siehe Lodyshenski. S. 245. [Fußnote im Original]

[6] Die zaristische Regierung war gezwungen, am 2. März 1864 die Leibeigenschaft in Polen aufzuheben und damit den polnischen Bauern ihre in den Kämpfen von 1863/64 erworbenen Rechte zu garantieren.