Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 776

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Beginn der gewerkschaftlichen Bewegung darbieten. Mehr noch als absolutes Elend charakterisiert diese Zustände erstens die große Unsicherheit, das heißt Ungleichmäßigkeit in der Lage des Arbeiters in verschiedenen Zeiten, und zweitens die große Ungleichmäßigkeit zu jeder Zeit in der Lage verschiedener Schichten der Arbeiterschaft. Das Kapital reißt hier in seinem Aufschwung die Arbeitskraft jäh empor und schleudert sie in seinem Niedergang ganz schrankenlos zu Boden. Und während einzelne gelernte Berufe ein dem kleinbürgerlichen ähnliches Dasein führen, werden ganze Schichten unter das physische Existenzminimum herabgedrückt und direkt zum Aussterben verurteilt.

Hier schaffen die Gewerkschaften, wenn sie die allgemeinen Interessen der Arbeiter als Klasse im Auge behalten, gründlichen Wandel. Indem sie in den Perioden des Aufschwunges das durch den Profit zulässige Maximum an Löhnen erringen, um aus ihnen die Abwehrkräfte in den Perioden des Niederganges zu speisen, indem sie das unterste Niveau der Lebenshaltung der Masse heben und zugleich die bestsituierten Berufe zur allgemeinen Organisation herbeiziehen, indem sie endlich sowohl in jedem Beruf wie für die ganze Klasse allgemeine Regeln (Arbeitszeit etc.) schaffen, führen sie eine Ausgleichung der Lebenslage des Proletariats in verschiedenen Phasen der Produktion wie zwischen seinen verschiedenen Schichten und eine gewisse Stabilität dieser Lebenslage herbei. Dadurch, also dank den Gewerkschaften, ergibt sich erst als gesellschaftliche Realität, als Wirklichkeit jenes „gewohnheitsmäßige Lebensniveau“ der Arbeiter, das vor dem Beginn des Gewerkschaftskampfes ein bloßer ideeller Durchschnitt zwischen verschiedensten Lebenslagen innerhalb der Arbeiterklasse, ein bloßer mathematischer Begriff war.

Es handelt sich also nicht bloß darum, wie Herr Sombart in seiner theoretischen Jugendfrische vorschlägt, die Lebensgewohnheiten der Arbeiter möglichst zu erhöhen, um dadurch das Kapital immer mehr in die Schranken zu weisen. Umgekehrt sind es die „Gewohnheiten“ des Kapitals, d. h. seine vornehmste Gewohnheit, einen „gewohnten“, örtlich und zeitlich durch die Produktivität der Arbeit bestimmten Profit zu produzieren, die jeweilig die Schranke weisen, bis zu der die Gewohnheiten der Arbeiter durch die gewerkschaftliche Aktion gehoben werden können.

Für die Gewerkschaften wie für jeden sozialen Machtfaktor besteht also der wahre und historisch einzig mögliche Eingriff des Bewußtseins und der Macht in den gesellschaftlichen Prozeß nicht darin, daß man sich über seine Gesetze hinwegsetzt, sondern daß man sie erkennt und sich eben dadurch dienstbar macht.

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