Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 627

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Autorität verjüngt werden sollte, hat sich bald gezeigt, mit dem Brotwucher, der Erhöhung der indirekten Steuern, d. h. mit der Abwälzung der Steuerlast von den Junkern auf die arbeitende Volksmasse, mit Verstaatlichung der Reichsbank, d. h. der Verwandlung der Reichsmittel in eine Pumpstation für „notleidende“ Ostelbier, mit der Doppelwährung, endlich mit Beschränkung der Freizügigkeit für die ländliche Arbeiterschaft – das waren die Mittel, mit denen die Junker „das Volk zur Kirche zurückzuführen“ gedachten.

Schöne Seelen finden sich; die agrarische Schutzzollorganisation fand sich sofort mit der zu gleicher Zeit, 1876, entstandenen Organisation der kapitalistischen Schutzzöllner, dem Zentralverband der Industriellen. Auf diesen beiden Pfeilern errichtete Bismarck sein System der Volksauspowerung und Knechtung. Es begann im Reichstag jene Kuhhandelspolitik, jenes Börsenspiel zwischen den Agrariern und den Industriellen, bei dem in allen Fällen die Haut der großen Masse zu Markte getragen wurde; ein Abgeordneter beschreibt folgendermaßen die Verhandlungen der „ehrlichen Makler“ in der Kulisse des Hauses: „Der eine bot: Geben Sie 50 Pf für Roggen, gebe ich den vollen Eisenzoll; oder: Verwerfen Sie das Amendement gegen den Eisenzoll, so gebe ich Ihnen den Roggen usw. Man zweifelte mitunter, man mußte sich besinnen, daß man sich an der Leipziger Straße befand und nicht etwa in einer sonst auch sehr achtbaren Versammlung an der Burgstraße[1].“

Aber nicht lange blieb die „Vereinigung“ der Agrarier bei so bescheidenen Forderungen; sie, die im § 2 ihres Statuts noch im Jahre 1876 geschrieben hatten: „Auf der Grundlage des Freihandels stehend, sind wir Gegner der Schutzzölle“, stiegen bald mit ihrem Begehren von 50 Pf bis 1 Mark, auf 3 und 5 Mark Zoll für Brotgetreide. Mit derselben Frechheit, derselben Hartnäckigkeit, denselben Drohungen, womit sie wenige Jahre vorher noch für die gänzliche Abschaffung der Zölle kämpften, verfochten die Junker seit Ende der 70er Jahre den Schutzzoll. Das Interesse der Grundrente hatte sich geändert: Der amerikanische Weizen und der russische Roggen erschienen als drohende Feinde der altpreußischen Herrlichkeit auf dem Platze, und die ganze deutsche Wirtschaftspolitik mußte auf das Geheiß der Junkerpartei eins, zwei, drei — Kehrum machen 1 Nach der agrarischen Pfeife der Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer tanzte Deutschland schutzzöllnerisch.

Als die ostelbischen Junker noch freihändlerisch gesinnt waren, nannten

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[1] In der Leipziger Straße befand sich das Preußische Herrenhaus, in der Burgstraße die Berliner Börse.