Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 580

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auch die Aufgabe der Flotte. Um die Stärke einer Flotte zu bestimmen, muß man vor allem wissen, welchen Widerstand sie zu bestehen hat. Das Problem hat vorzugsweise einen politisch-ökonomischen Charakter; es ist eine Utopie, eine Flotte besitzen zu wollen, die überhaupt gegen jeden beliebigen Widerstand anzukämpfen imstande wäre. Man muß vor allem und je nach der Politik des Landes feststellen, gegen welche möglichen, wahrscheinlichen oder sicheren Streitkräfte es zu widerstehen hätte; nachdem dies getan, kann man die in jedem Fall entgegenzusetzende Macht einschätzen und, gestützt auf die finanziellen Kräfte, die Zeit und die Mittel bestimmen, die zur Erreichung dieser Macht notwendig sind. Kann man diese Seemacht unter den erwähnten Verhältnissen nicht erreichen, dann muß man entweder auf sie verzichten oder nach Bündnissen suchen.“

Ein vernünftiger Marineoffizier hält also das, was unsere Regierung mit ihrem heutigen Plan offenbar erstrebt: eine Steigerung der Seemacht ins unendliche, um sie jedem denkbaren Widerstand gewachsen zu machen, ganz abgesehen von der wirklichen politischen Lage, für einen Unsinn. Er stellt als praktischer Fachmann vor allem klipp und klar die Frage: Will man eine Flotte, um Offensivkriege zu führen, oder will man sie nur, um das Land gegen fremden Angriff zu schützen; und im letzteren Fall, von welcher Seite man einen Angriff mit Wahrscheinlichkeit erwarten könne.

Stellt man die Fragen so, dann erscheint der neue Flottenplan der deutschen Regierung erst recht als eine Mißgeburt vom politischen Standpunkt. Die Urheber der uferlosen Pläne haben sich offenbar mit solchen trivialen Fragen gar nicht befaßt und, ohne im geringsten an die tatsächlichen Erfordernisse, die an die deutsche Seemacht von der politischen Lage gestellt werden, zu denken, einfach sich vorgenommen, es mit England auf der See aufzunehmen! Denn zum Schutze unserer Küsten ebenso wie zum Schutze der 8 Prozent unserer Ausfuhr, die mehr oder weniger in den Wirkungsbereich unserer Flotte fallen, ist sie mehr als ausreichend. Eine Vergrößerung diente jetzt nicht etwa zur Verteidigung der deutschen Interessen in etwaigen internationalen Konflikten, sondern umgekehrt zur Heraufbeschwörung solcher Konflikte, nicht zum Schutze der eigenen Angelegenheiten, sondern dazu, die deutsche Nase in alle möglichen fremden Angelegenheiten zu stecken.

Der Weltwassersport mit England ist zwar sehr verlockend, aber man erzählt von dem Frosch, der sich so gewaltig aufblasen wollte, um dem Ochsen gleichzukommen, daß er – platzte.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 254 vom 2. November 1899.

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