Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 441

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eroberung des gesetzlichen Bodens. Vollmars Staatssozialismus[1], die bayerische Budgetabstimmung[2], der süddeutsche Agrarsozialismus[3], Heines Kompensationsvorschläge[4], endlich Schippels Zoll- und Milizstandpunkt[5], das sind die Marksteine in der Entwicklung der opportunistischen Praxis.

Was kennzeichnete sie vor allem äußerlich? Die Feindseligkeit gegen „die Theorie“. Und dies ist ganz selbstverständlich, denn unsere „Theorie“, d. h. die Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus, setzen der praktischen Tätigkeit ebenso in bezug auf die angestrebten Ziele wie auf die anzuwendenden Kampfmittel wie endlich selbst auf die Kampfweise sehr feste Schranken. Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei zu machen, d. h. unsere Praxis von der „Theorie“ zu trennen, von ihr unabhängig zu machen.

Aber dieselbe Theorie schlug sie bei jedem praktischen Versuch auf den Kopf: Der Staatssozialismus, Agrarsozialismus, die Kompensationspolitik, die Milizfrage sind ebensoviel Niederlagen für den Opportunismus. Es ist klar, daß diese Strömung, wollte sie sich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazu kommen mußte, sich an die Theorie selbst, an die Grundsätze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu erschüttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen. Ein dahingehender Versuch war eben die Bernsteinsche Theorie, und daher sahen wir auf dem Parteitag in Stuttgart[6] alle opportunistischen Elemente sich sofort um das Bernsteinsche Banner gruppieren. Sind einerseits die opportunistischen Strömungen in der Praxis eine ganz natürliche, aus den Bedingungen unseres Kampfes und seinem Wachstum erklärliche Erscheinung, so ist andererseits die Bernsteinsche Theorie ein nicht minder selbstverständlicher Versuch, diese Strömungen in einem allgemeinen theoretischen Ausdruck zusammenzufassen, ihre eigenen theoretischen Voraussetzungen herauszufinden und mit dem wissenschaftlichen Sozialismus abzurechnen. Die Bernsteinsche Theorie war daher von vornherein die theoretische Feuerprobe für den Opportunismus, seine erste wissenschaftliche Legitimation.

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[1] Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie vom 14. bis 21. November 1892 in Berlin war eine Resolution einstimmig angenommen worden, in der die Theorie vom sogenannten Staatssozialismus als Mittel zur Trennung der Arbeiter von der Sozialdemokratie entlarvt wurde. Nach dieser Theorie sollten geringe Konzessionen an die Arbeiterklasse und eine umfassende Verstaatlichung der kapitalistischen Wirtschaft als Sozialreform ausgegeben werden.

[2] Am 1. Juni 1894 hatte die sozialdemokratische Fraktion des bayrischen Landtags unter Führung Georg von Vollmars dem Budget zugestimmt und damit erstmals das von August Bebel aufgestellte Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen“ durchbrochen.

[3] In der Diskussion über das Agrarprogramm forderten Eduard David und Max Quarck die Unterstützung der Kleinbetriebe durch den kapitalistischen Staat in Form von Reformen, die sie als sozialistisch ausgaben. Sie leugneten die geschichtliche Tendenz zum Großbetrieb und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit der sozialistischen Vergesellschaftung auf dem Lande.

[4] Wolfgang Heine hatte in einer Rede am 10. Februar 1898 im dritten Berliner Reichstagswahlkreis die opportunistische Auffassung vertreten, die Sozialdemokratie könne einer preußisch-junkerlichen Regierung Militärforderungen für „Volksfreiheiten“ bewilligen. Mit diesem Kompromiß wollte Heine den antimilitaristischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie revidieren.

[5] In seinem unter dem Pseudonym Isegrim veröffentlichten Artikel „War Friedrich Engels milizgläubisch?“ in den „Sozialistischen Monatsheften“, dem theoretischen Organ der Revisionisten, vom November 1898, versuchte Max Schippel, die revolutionäre antimilitaristische Haltung der Sozialdemokratie zu revidieren. Er vertrat die Schutzzollpolitik, die die großen Land- und Industriemonopolisten stärkte und die Interessengegensätze zwischen den Nationen vertiefte.

[6] Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 3. bis 8. Oktober 1898 in Stuttgart statt.