Ideals“[1] in der Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet, gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats, gegen den revolutionären Klassenkampf, eifert – was tut er im Grunde genommen anders, als der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Aussöhnung mit der bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnungen ins Jenseits der sittlichen Vorstellungswelt, predigen?
Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er anderes, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten Proletariats ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es, materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein der Dialektik Valet sagt[2] und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar Aber, Obgleich-Dennoch, Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historisch bedingte Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. [Caprivi[3] – Hohenlohe[4], Berlepsch[5] – Posadowsky[6], Februarerlasse[7] – Zuchthausvorlage[8],] das politische Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genauso aus wie die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.
[1] Eduard Bernstein: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Stuttgart 1899, S. 187.
[2] 2. Auflage: von der Dialektik Abschied nimmt.
[3] Leo Graf von Caprivi war 1890 bis 1894 Nachfolger Otto Fürst von Bismarcks als Reichskanzler. Der „neue Kurs“ in seiner Politik stellte den Versuch dar, durch Zugeständnisse der Sozialdemokratie den Boden zu entziehen. Dieser Versuch scheiterte.
[4] Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, von 1894 bis 1900 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Unter seiner Kanzlerschaft versuchte die Regierung, die mit dem Sozialistengesetz gescheiterte Methode der Gewalt gegenüber der Arbeiterklasse wieder ins Leben zu rufen.
[5] Hans Hermann Freiherr von Berlepsch, preußischer Handelsminister von 1890 bis 1896, scheiterte bei seinem Versuch, mit Hilfe einer Arbeiterschutzgesetzgebung der Arbeiterbewegung entgegenzuwirken.
[6] Karl Freiherr von Stumm. Großindustrieller und Freund Wilhelms II., Mitbegründer und Führer der Deutschen Reichspartei, sowie Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern und Vizekanzler von 1897 bis 1907, verfochten als schärfste Gegner der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die Anwendung brutalster Gewalt bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse.
[7] Gemeint sind zwei Erlasse Wilhelms II. zur Arbeiterschutzgesetzgebung vom 4. Februar 1890, die das Ergebnis des Scheiterns der Bismarckschen Sozialpolitik und das der ökonomischen und politischen Massenkämpfe der deutschen Arbeiter waren. Wilhelm R. schränkte sie noch am gleichen Abend ein.
[8] Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. Dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der „Vorwärts“ am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.