Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 432

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Bernstein weiß freilich anderen Rat[1]: Führt[2] die Entwicklung der Demokratie zur Verschärfung und nicht zur Abschwächung der kapitalistischen Widersprüche, dann „müßte die Sozialdemokratie“, antwortet er uns, „wenn sie sich nicht selbst die Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterung der demokratischen Einrichtungen nach Möglichkeit zu vereiteln streben“ (S. 71). Dies allerdings, wenn die Sozialdemokratie nach kleinbürgerlicher Art an dem müßigen Geschäft des Auswählens aller guten Seiten und des Wegwerfens schlechter Seiten der Geschichte Geschmack fände. Nur müßte sie dann folgerichtig auch den ganzen Kapitalismus überhaupt „zu vereiteln streben“, denn er ist doch unstreitbar der Hauptbösewicht, der ihr alle Hindernisse auf dem Wege zum Sozialismus stellt. Tatsächlich gibt der Kapitalismus neben und zugleich mit Hindernissen auch die einzigen Möglichkeiten, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Dasselbe gilt aber vollkommen auch in bezug auf die Demokratie.

Ist die Demokratie[, wie wir auf Seite 45 ff.[3] gezeigt haben,] für die Bourgeoisie teils überflüssig, teils hinderlich geworden, so ist sie für die Arbeiterklasse dafür notwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens notwendig, weil sie politische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u. dgl.) schafft, die als Ansätze und Stützpunkte für das Proletariat bei seiner Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie ist aber zweitens unentbehrlich, weil nur in ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum Bewußtsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann.

Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht, weil sie die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese Machtergreifung ebenso notwendig wie auch einzig möglich macht. Wenn Engels die Taktik der heutigen Arbeiterbewegung in seinem Vorwort zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ revidierte und den Barrikaden den gesetzlichen Kampf entgegenstellte, so behandelte er – was aus jeder Zeile des Vorworts klar ist – nicht die Frage der endgültigen Eroberung der politischen Macht, sondern die des heutigen alltäglichen Kampfes, nicht das Verhalten des Proletariats gegenüber[4] dem kapitalistischen Staate im Moment der Ergreifung der Staatsgewalt, sondern sein Verhalten im Rahmen des kapitalistischen Staates. Mit einem

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[1] 2. Auflage: Bernstein freilich zieht andere Schlüsse daraus.

[2] 2. Auflage: Führte.

[3] Siehe Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution. In: GW, Bd. 1/1, S. 422–426.

[4] 2. Auflage nicht kursiv.