Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 426

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gung zur Lebensbedingung und zur sozialen Voraussetzung der bürgerlichen Demokratie heute macht, daß diese Demokratie in gleichem Maße der inneren Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft widerspricht, wie die sozialistische Arbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.

Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzicht auf das sozialistische Endziel seitens der Arbeiterklasse zur Voraussetzung und Bedingung des Wiederauflebens der bürgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig umgekehrt die bürgerliche Demokratie eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung und des sozialistischen Sieges sein kann. Hier schließt sich das Bernsteinsche Raisonnement zu einem fehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlußfolgerung seine erste Voraussetzung „frißt“.

Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: Aus der Tatsache, daß der bürgerliche Liberalismus vor Schreck vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren Endzielen seine Seele ausgehaucht hat, folgt nur, daß die sozialistische Arbeiterbewegung eben heute die einzige Stütze der Demokratie ist und sein kann und daß nicht die Schicksale der sozialistischen Bewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden sind; daß die Demokratie nicht in dem Maße lebensfähig wird, wie die Arbeiterklasse ihren Emanzipationskampf aufgibt, sondern umgekehrt in dem Maße, wie die sozialistische Bewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen der Weltpolitik und der bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen; daß, wer die Stärkung der Demokratie wünscht, auch Stärkung und nicht Schwächung der sozialistischen Bewegung wünschen muß und daß mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebenso die Arbeiterbewegung wie die Demokratie aufgegeben wird.

[Bernstein erklärt zum Schluß seiner „Antwort“ an Kautsky im „Vorwärts“ vom 26. März 1899, er sei mit dem praktischen Teil des Programms der Sozialdemokratie im ganzen durchaus einverstanden, er hätte bloß gegen dessen theoretischen Teil etwas einzuwenden. Dessenungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu können, denn welches „Gewicht“ ist darauf zu legen, „ob im theoretischen (Teil) ein Satz steht, der mit meiner Auffassung vom Gang der Entwicklung nicht mehr stimmt“? Diese Erklärung zeigt im besten Falle, wie vollständig Bernstein den Sinn für den Zusammenhang der praktischen Tätigkeit der Sozialdemokratie mit ihren allgemeinen

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