Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 377

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-1-1/seite/377

überflüssig. Sie können daher Ansätze und Voraussetzungen der sozialistischen Ordnung bloß in begrifflichem und nicht in historischem Sinne darstellen, d. h. Erscheinungen, von denen wir auf Grund unserer Vorstellung vom Sozialismus wissen, daß sie mit ihm verwandt sind, die aber tatsächlich die sozialistische Umwälzung nicht nur nicht herbeiführen, sondern sie vielmehr überflüssig machen. Bleibt dann als Begründung des Sozialismus bloß das Klassenbewußtsein des Proletariats. Aber auch dieses ist gegebenenfalls nicht der einfache geistige Reflex[1] der sich immer mehr zuspitzenden Widersprüche des Kapitalismus und seines bevorstehenden Untergangs – dieser ist ja verhütet durch die Anpassungsmittel –, sondern ein bloßes Ideal, dessen Überzeugungskraft auf seinen eigenen ihm zugedachten Vollkommenheiten beruht.

Mit einem Wort, was wir auf diesem Wege erhalten, ist eine Begründung des sozialistischen Programms durch „reine Erkenntnis“, das heißt, einfach gesagt, eine idealistische Begründung, während die objektive Notwendigkeit, das heißt die Begründung durch den Gang der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung, dahinfällt. Die Bernsteinsche[2] Theorie steht vor einem Entweder – Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven[3] Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das[4] Ergebnis, dann sind aber auch die „Anpassungsmittel“ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die „Anpassungsmittel“ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen[5], also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: Entweder hat Bernstein[6] in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muß aber die Theorie der „Anpassungsmittel“ nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die Frage.

Nächste Seite »



[1] 2. Auflage: Widerschein.

[2] 2. Auflage: revisionistische.

[3] 2. Auflage: inneren.

[4] 2. Auflage: eingefügt: „unvermeidliche“.

[5] 2. Auflage: Oder die Anpassungsmittel sind wirklich imstande, einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorzubeugen.

[6] 2. Auflage: der Revisionismus.