Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 375

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Krise sein, so muß man unseres Erachtens dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Grundgedanken und dessen äußere Form.

Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus, kraft eigener Widersprüche, den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach unmöglich wird. Daß man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und erschütternden Handelskrise dachte, hatte unseres Erachtens[1] seine guten Gründe, bleibt aber nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.

Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermaßen auf drei Ergebnisse der kapitalistischen Entwicklung: vor allem auf die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht, zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende Macht[2] und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet.

Es ist der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlichen Sozialismus, den Bernstein beseitigt. Er behauptet nämlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht einem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen.

Er verwirft aber damit nicht bloß die bestimmte Form[3] des kapitalistischen Unterganges, sondern diesen Untergang selbst. Er sagt ausdrücklich: „Es könnte nun erwidert werden, daß, wenn man von dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaft spricht, man dabei mehr im Auge hat als eine verallgemeinerte und gegen früher verstärkte Geschäftskrisis. nämlich einen totalen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an seinen eigenen Widersprüchen.“ Und darauf antwortet er: „Ein annähernd gleichzeitiger völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Produktionssystems wird mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen – bzw. zugleich damit – die Differenzierung der Industrie steigert.“[4]

Dann entsteht aber die große Frage: Warum und wie gelangen wir überhaupt noch zum Endziel unserer Bestrebungen? Vom Standpunkte des

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[1] 2. Auflage: gewiß.

[2] 2. Auflage: Organisation.

[3] 2. Auflage nicht kursiv.

[4] Neue Zeit, 1897/98, Nr. 18, S. 555. [Fußnote im Original]