Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 311

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Freilich war das Jahr 1897 ein besonders günstiges in dieser Beziehung und die Zahl, um die die Geburtsfälle die Todesfälle übertrafen, die größte in dem ganzen verflossenen Jahrzehnt – sie erreichte 108 088. Allein dieselbe Statistik ergibt zugleich, daß im Vergleich zu anderen Ländern Frankreich auch in diesem günstigen Jahre eine sehr große Sterblichkeit und die geringste Zahl der Geburten hat, ferner daß in einigen (nördlichen) Departements auch in diesem Jahre eine absolute Abnahme der Geburten stattgefunden hat. Im ganzen schreitet also die Degeneration Frankreichs unzweifelhaft weiter fort, wie besonders das letzte Jahrzehnt grell aufgewiesen hat. Während z. B. in Deutschland der Überschuß der Geburten über die Todesfälle jährlich im Durchschnitt (1891–1895) 640 000 ausmacht, in England weniger, immerhin aber noch bis 460000, beträgt er in Frankreich im Gesamtergebnis der letzten 10 Jahre die winzige Zahl von 292 315, also im Durchschnitt nur 29 231 jährlich. Viermal in diesem Zeitraum hatte Frankreich ein absolutes Defizit der Bevölkerung, indem die Todesfälle im Jahre 1890 um 38400, im Jahre 1891 um 10500, 1892 um 20000 und 1895 um 17 800 die Geburten überwogen. Die absolute Zahl der Geburten nimmt beständig ab. Sie betrug 1872–1878 durchschnittlich 950 000 jährlich, im Zeitraume 1890–1897 nur noch 850 000-860 000, und die einfache arithmetische Berechnung zeigt, daß in 20-25 Jahren die Zahl der Geburten auf 800 000 oder gar auf 760 000 fallen muß. Nimmt die Sterblichkeit in der nächsten Zeit nicht ab, so hört Frankreichs Bevölkerung bald auf, überhaupt zu wachsen, und ein absoluter Rückgang wird sich nach kurzer Zeit einstellen. Als die unmittelbare Hauptursache dieser Erscheinung wird das bekannte französische Zweikindersystem, das besonders von dem Kleinbürgertum beobachtet wird, hingestellt. Aber die erzwungene geschlechtliche Enthaltsamkeit einer ganzen großen Volksklasse hat ihre tiefen Gründe in den sozialen, vor allem in den materiellen, wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Nation. Es ist nichts anderes als die materielle Not, die Schwierigkeit des Kampfes ums Dasein und die Unsicherheit der Existenz, die Millionen des Volkes zwingen, in widernatürlichster Weise dem physiologischen Trieb zur Vermehrung zu entsagen und so die Daseinsbasis der ganzen Nation zu untergraben. Auch die unnatürlichen Familienverhältnisse der heutigen Gesellschaft sind es in hohem Maße, die eine normale, zeitgemäße Eheschließung und eine ungehinderte Vermehrung der Bevölkerung für die große Zahl zur Unmöglichkeit machen. Für die physische Degeneration des heutigen Frankreichs ist in letzter Linie nichts anderes als die widersinnige gesellschaftliche Ordnung, in der wir leben, als der Kapitalismus verantwortlich.

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