Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 290

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behörde die Vervollständigung ihrer Angaben vor der Absendung an das Statistische Amt veranlassen und dabei sich auch an die direkt Beteiligten um Mitteilungen wenden. Bei dem bekannten arbeiterfeindlichen Geist der deutschen Polizei und Verwaltungsorgane ist es aber von vornherein klar, daß dieselben sich eventuell nur an die Unternehmer wenden und die Erhebungen somit von vornherein einen einseitigen, unter Umständen direkt parteiischen Charakter tragen werden.

Ferner sind aber die Erhebungen des Statistischen Amtes selbst in einer Weise gestaltet, daß sie den unangenehmsten polizeilichen Beigeschmack haben. Während in allen anderen Ländern die Fragebogen nur über Ort, Gewerbe, Dauer, Ausdehnung, Ursache und Ergebnis der Arbeitseinstellung Auskunft erheischen, werden in den deutschen Fragebogen noch einige Fragen gestellt, die mit den wirtschaftlichen Zwecken der Statistik nichts gemein haben. So lautet Punkt 11 des Formulars: „Inwieweit haben Berufsvereinigungen oder dritte Personen auf den Ausbruch des Streiks hingewirkt, haben dieselben insbesondere Geldunterstützungen gewährt?“ Ferner Punkt 13: „Inwieweit haben während des Streiks Arbeitswillige polizeilich geschützt werden müssen?“ Endlich Punkt 14: „Ob aus Anlaß des Streiks die Staatsanwaltschaft in Anspruch genommen ist?“ Der Zusammenhang der angeführten drei Punkte mit dem neuesten Kurs auf dem Gebiete des Koalitionsrechtes[1] ist unverkennbar. Die Streikstatistik soll in unzweideutiger Weise Material über „Anreizung“ zum Streik seitens der Gewerkschaften und der „sozialdemokratischen Hetzer“ – denn das sind offenbar die „dritten Personen“ des Formulars – liefern, auch über die Notwendigkeit des Schutzes der Arbeitswilligen gegen den „Terrorismus“ der Streikenden. Während also andere Staaten durch die Streikstatistik – wenigstens im Prinzip – lediglich die Materialansammlung für Sozialreform, für arbeiterfreundliche Maßnahmen verfolgen, soll die deutsche Statistik als Anklagematerial gegen die moderne Arbeiterbewegung, für reaktionäre Pläne und Volksentrechtung dienen. Das stimmt mit dem ganzen Geiste der heutigen deutschen Sozialpolitik aufs trefflichste zusammen: Zuckerbrot mit Peitsche glückverheißend verbunden. Das Koalitionsrecht wird „unangetastet“ bleiben, aber es darf nicht ausgeübt werden; eine Streikstatistik wird eingeführt, aber sie soll nicht zu Zwecken der Sozialreform, sondern zu Zwecken politischer Reaktion dienen. Die Arbeiterschaft, ihre Organisationen und ihre Presse werden somit auf die künftige amtliche Statistik der Arbeitseinstellungen von Anfang an ein wachsames Auge zu richten und eventuell ihre Unrichtigkeiten oder ihren

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[1] Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, Staatssekretär im Reichsamt des Innern, hatte am 11. Dezember 1897 an die Regierungen der deutschen Einzelstaaten ein geheimes Rundschreiben gesandt, in dem er Vorschlage für gesetzliche Maßnahmen gegen das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit forderte. Der deutschen Sozialdemokratie war es gelungen, das Geheimdokument in die Hand zu bekommen. Sie veröffentlichte es am 15. Januar 1898 im „Vorwärts“. Am 6. September 1898 kündigte Wilhelm II. in einer Rede in Oeynhausen die für 1899 vorgesehene Gesetzesvorlage, bekannt geworden als „Zuchthausvorlage“, an.