Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 29

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gung der sie aneinander fesselnden Bande zur Folge hat. Das Proletariat vermag nur, diese zentralisierenden Wirkungen des Kapitalismus auszunutzen – zur Zusammenfassung seiner Kräfte und zur Demokratisierung des geeinigten Staates, es ist aber nicht imstande, sich jenen Wirkungen zu widersetzen und den verschiedenen Teilen des Staates ihre Unabhängigkeit wiederzugeben. So kann man im voraus sagen, daß die Erringung des allgemeinen Wahlrechts in Österreich, indem sie das Proletariat in allen seinen Klassenbestrebungen riesig vorwärtstreiben wird, jedoch gleichzeitig, weit entfernt, den österreichischen Staat dem Zerfall zu nähern, vielmehr seine Landesteile auf neuer Grundlage zusammenkitten wird.

Die Forderung der Wiederherstellung Polens kann somit kein harmonisches Ganzes mit den übrigen Forderungen und mit der Tätigkeit der Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich bilden. Die Aufnahme dieser Forderung in das gemeinsame Parteiprogramm müßte in der Tätigkeit der polnischen Sozialisten ein beständiges Schwanken hervorrufen zwischen dem nationalistischen Standpunkt, dem Standpunkt der angeblich besonderen Interessen des polnischen Proletariats, und dem allgemeinen Klassenstandpunkt der respektiven Sozialdemokratien, wobei ihre Agitation auf dem einen Gebiet in keinem inneren Zusammenhang mit ihrer Agitation auf dem anderen stehen würde.

Auf welchen der beiden Standpunkte aber die polnischen Sozialisten den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit verlegen würden, ob auf den der spezifisch polnischen, nationalen Interessen oder auf den der gemeinsamen Klasseninteressen – das ist unschwer zu erraten.

Wir haben bereits gesehen, daß schon die Lage der polnischen Sozialisten neben der deutschen und österreichischen Partei sie auf den Weg des Nationalismus drängen müßte. Außerdem aber fallen dabei schwer ins Gewicht die besonderen sozialen Verhältnisse, in denen die polnischen Sozialisten zu wirken haben.

Angesichts der Herrschaft beinahe an mittelalterlichen Feudalismus erinnernder Zustände in Posen und Galizien, angesichts des Fehlens der Großindustrie sind die Sozialisten auf die Werbung von Anhängern hauptsächlich in Handwerkerkreisen angewiesen, welch letztere vom Kleinbürgertum, der tonangebenden städtischen Klasse, stark beeinflußt werden. Das Kleinbürgertum ist aber sowohl in Galizien wie in Posen der letzte, wenn auch ohnmächtige Hüter der Überlieferungen des reinen Nationalismus. In einem so beschaffenen sozialen Milieu wirkend und andererseits von der Gesamtbewegung in Deutschland und Österreich durch ein besonderes nationales Programm getrennt, könnten sich die polnischen Soziali-

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