Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 224

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deutschen Katholiken in Preußen den polnischen Kandidaten ihre Stimmen verweigert, ja, Gegenkandidaten aufgestellt haben. Angesichts dessen werden in der polnischen Presse Stimmen laut, daß man bei den preußischen Landtagswahlen dem Zentrum seinerseits die Gefolgschaft verweigern und, was für uns noch interessanter, in Westfalen und der Rheinprovinz die polnischen Arbeitermassen gleichfalls vom Zentrum losreißen müsse.

Im Zusammenhang mit dieser Umwandlung gewinnt im polnischen Lager eine andere, für uns gar nicht gleichgültige Strömung immer mehr Oberhand. Wie in Oberschlesien der „Katolik“ und seine Waffenbrüder, schreibt in Preußen, außer dem Posener „Orędownik“, den wir bereits erwähnt haben, auch die „Gazeta Toruńska“ (Thorner Zeitung): „Die sozialen Verhältnisse haben sich uns bei den heurigen Reichstagswahlen von einer Seite gezeigt, die vielleicht bis jetzt zu wenig beachtet wurde. Es läßt sich nämlich nicht mehr leugnen, daß die Arbeiterklasse auf den ersten Plan getreten ist und daß sie den Sieg entscheidet ... Unsere Abgeordneten werden vergessen müssen, daß sie selbst Brotherren sind ... Heute noch haben ideelle Güter, d. h. die Liebe zur Religion und zur Sprache der Väter, mehr Bedeutung für unser Volk als ökonomische Fragen, aber schon in den letzten Wahlversammlungen haben wir Stimmen vernommen, welche dartun, daß der polnische Arbeiter anfängt, über die soziale und ökonomische Bedeutung der Wahlen nachzudenken ... Auch unsere Agitatoren haben sehr oft Einwände hören müssen, daß ‚ein Herr, ob er Pole oder Deutscher ist, nie was Gutes für den Arbeiter tun würde, er denkt ja vor allem daran, daß er billige Arbeiter vom Auslande bekommt und daß er das Getreide und Vieh teuer verkauft‘.“ Die Saat der Herren vom Zentrum und vorn Polenklub fängt also auch in den rückständigsten Winkeln Preußens an aufzugehen, und die Ernte wird natürlich auch hier niemand anders als die Sozialdemokratie einheimsen. Daß die „Polen“ und die Zentrumsabgeordneten „vergessen sollen, daß sie Brotherren sind“, ist natürlich eine sehr naive Zumutung, die so recht zu dem beschränkten Verstand des kleinbürgerlichen Politikers paßt. Eintreten wird vielmehr das Gegenteil: Die Wählermassen in Preußen werden sich erinnern, daß sie Brotsklaven sind, und dann fliegen die Polen wie das Zentrum – der Rabbi wie der Mönch – über Bord. Die bezeichneten Ergebnisse der Wahlen legen der Sozialdemokratie aber auch Pflichten auf. Der bereits aufgewühlte Boden muß auch kräftig bebaut, der polnischen[1] Arbeiterschaft muß eine systematische Agitation zugewandt werden. Daß

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[1] In der Quelle: preußischen