Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 1.1, 8., überarbeitete Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2007, S. 210

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der geworden ist, schwindet auch die Abgeschlossenheit ihrer materiellen Existenz immer mehr. Der Austausch und die Arbeitsteilung knüpften zwischen Rußland und Polen tausend Fäden, und die mannigfaltigen ökonomischen Interessen griffen so ineinander, daß die polnische und die russische Ökonomik heute nur mehr einen komplizierten Mechanismus bilden.

Der geschilderte Prozeß spiegelt sich in sehr verschiedener Weise in dem Bewußtsein der verschiedenen Faktoren des polnischen öffentlichen Lebens wider. Die russische Regierung erblickt in ihm ein Werkzeug ihrer Herrschaftspläne, glaubt Polen damit für immer ihrer Macht auf Gnade und Ungnade überantwortet und ein tausendjähriges Reich der Despotie gegründet zu haben. Die polnische Bourgeoisie sieht darin ein Fundament der eigenen Klassenherrschaft im Lande und eine unerschöpfliche Quelle der Bereicherung; sie wiegt sich in den süßesten Zukunftsträumen beim Gedanken an Asien und glaubt darauf ein tausendjähriges Reich des Kapitals bauen zu können. Die verschiedenen nationalistischen Elemente der polnischen Gesellschaft endlich fassen den ganzen sozialen Vorgang als ein einziges großes nationales Unglück auf, welches ihre Hoffnungen auf die Wiederaufbauung eines unabhängigen polnischen Staates unbarmherzig zertrümmert. Sie fühlen instinktiv die Macht der ökonomischen Bande, welche der Kapitalismus zwischen Polen und Rußland geschaffen hat, heraus, und ohne den fatalen Prozeß in Wirklichkeit aufhalten zu können, machen sie ihn wenigstens in der eigenen Einbildung rückgängig, indem sie sich an jeden Schein verzweiflungsvoll klammern und von der russischen Regierung selbst erwarten, daß sie mit eigenen Händen die verhaßte kapitalistische Entwicklung Polens vernichten und so für den Nationalismus wieder Boden schaffen werde.

Wir glauben, daß die russische Regierung, die polnische Bourgeoisie und die polnischen Nationalisten im gleichen Maße mit Blindheit geschlagen sind und daß der kapitalistische Verschmelzungsprozeß zwischen Polen und Rußland noch eine wichtige dialektische Seite hat, die sie ganz außer acht lassen. Dieser Prozeß zeitigt nämlich aus eigenem Schoße den Moment, wo die Entwicklungsinteressen des Kapitalismus in Rußland mit der absoluten Regierungsform in Widerspruch geraten werden und wo die Zarenherrschaft an ihrem eigenen Werke zugrunde gehen wird. Früher oder später muß die Stunde schlagen, wo dieselbe heute von der Zarenregierung so gehätschelte polnische und russische Bourgeoisie ihres politischen Anwalts – des Absolutismus – überdrüssig und den König matt setzen wird. Ferner bewegt sich aber der kapitalistische Prozeß mit un-

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