Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 932

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hende Rußland vor 1905.[1] Eine günstige wirtschaftliche Konjunktur beschleunigte diese Entwicklung, und auf ihrem Boden setzte in den letzten zwei bis drei Jahren ein neuer intensiver Prozeß der Parteibildung und der Verschärfung der Klassengegensätze ein. Der äußere Ausdruck dieses Prozesses war die neue Bewegung der Arbeiterklasse, die, auf viel breiterer Grundlage als früher stehend, alle inneren Gegensätze des neuen Regimes ausnutzte und, immer mehr an Boden gewinnend, sich anschickte, wieder als treibende revolutionäre Kraft der Entwicklung Rußlands in die Erscheinung zu treten.

Dieser Entwicklungsgang ist durch den Krieg vorläufig unterbrochen worden. Genauso wie zu Beginn des Russisch-Japanischen Krieges[2] haben die durch den Krieg heraufbeschworenen Umwälzungen auf die revolutionäre Bewegung lähmend eingewirkt. Es ist unrichtig, wenn behauptet wird, die russische Revolution von 1905 sei eine direkte Folge der Niederlage Rußlands im Krieg gegen Japan gewesen. Die revolutionäre Bewegung war vielmehr schon in den Jahren vor dem japanischen Krieg in allen ihren potentiellen Bestandteilen gegeben. Schon in den Jahren 1902/03 erschütterten die Massenstreiks der Arbeiter, die Agrarunruhen der Bauern die Grundmauern des russischen Staates. Der japanische Krieg führte zunächst eine Lähmung der Arbeiter- und Agrarbewegung herbei. Aber die Tatsache, daß der Krieg sich fern vom eigentlichen Rußland abspielte und fast den Charakter eines Kolonialkrieges trug, vor allem aber die Tatsache, daß der Krieg beim russischen Bürgertum äußerst unpopulär war und nur den Wunsch bei ihm weckte, die japanischen Bajonette möchten ihm den Spielraum im russischen Staate erkämpfen, den es selbst zu erkämpfen nicht imstande war, schuf eine günstige Atmosphäre für die revolutionäre Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und dem Absolutismus. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, was Hugo Ganz in seinem Buche „Vor der Katastrophe“ über die damaligen Stimmungen in Rußland berichtet, die er während seines dreimonatigen Aufenthaltes in Petersburg bei Beginn des japanischen Krieges kennenzulernen Gelegenheit hatte. Er schreibt, nicht nur gemäßigte Liberale, sondern auch viele Konservative hätten damals nur den einen Wunsch gehabt: „Gott hilf uns, daß wir geschlagen werden!“[3] Unfähig zum eigenen Kampf, gefesselt durch das brutale Regiment eines Plehwe,[4] der die liberale Opposition als nicht minder staatsgefährlich hielt wie die revolutionäre Arbeiterbewegung, betrachtete die russische Bourgeoisie, obgleich sie sich äußerlich „patriotisch“ gebärdete, jeden Sieg der Japaner über das russische

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[1] Siehe z. B. dies.: Die sozialdemokratische Fraktion in der 4. Duma. In: ebenda, S. 750 ff.

[2] Der Russisch-Japanische Krieg, der von Januar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt wurde, endete mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

[3] Siehe Hugo Ganz: Vor der Katastrophe. Ein Blick ins Zarenreich. Skizzen und Interviews aus den russischen Hauptstädten, Frankfurt a. Main 1904, wo es S. 188 heißt: „Wenn Gott uns hilft und wir verlieren diesen Krieg […] Jeder gute Russe betet: Gott hilf uns und lasse uns Schläge kriegen!“

[4] Wjatscheslaw Plehwe war seit April 1902 russischer Innenminister gewesen und als schroffer Gegner liberaler Bestrebungen am 28. Juli 1904 Opfer eines Attentats des Sozialrevolutionärs Jegor Sassonow.