Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 747

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Ein Riesenkampf in Łódź. 40000 Textilarbeiter ausgesperrt1

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In dem russisch-polnischen Manchester, in Łódź, ist seit zwei Wochen einer jener verzweifelten Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit im Gange, die, wie ein verheerendes Feuer mit Blitzesschnelle um sich greifend, sich zu einer Katastrophe im ökonomischen und sozialen Leben auswachsen.2[2]

Das Martyrium der Łódźer Textilarbeiterschaft seit einer Reihe von Jahren läßt sich kaum beschreiben. In den Jahren 1905–1906 haben die Łódźer Arbeiter mit Feuereifer am Ausbau ihrer Gewerkschaften gearbeitet – der Łódźer Textilarbeiterverband zählte z. B. 11000 Mitglieder – und erreichten durch musterhafte Solidarität und Disziplin im Kampfe eine namhafte Lohnerhöhung und allgemeine Besserung ihrer Arbeitsbedingungen. Im Jahre 1907 kam die Rache der Unternehmer! Gestützt auf die Blutaktion der zaristischen Soldateska und der Galgenjustiz, holten die Fabrikanten zu einem vernichtenden Schlag aus: Eine Riesenaussperrung von 40000 Arbeitern, die sechs Wochen dauerte, sollte die „begehrlichen“ Arbeiter von ihrem Kampfgeist durch den Hunger auskurieren. Die durch die zaristischen Bluthunde terrorisierte, durch die langen Hungerqualen niedergedrückte Arbeiterschaft mußte zähneknirschend in das verhaßte Joch zurückkehren. Seitdem beginnt eine systematische Lohndrückerei, die nach und nach bis zu wahren Hungerlöhnen getrieben wurde. Es genügt zu sagen, daß im letzten Jahre der Verdienst weniger besser gestellter Arbeiter in der größten Łódźer Textilfabrik von Scheibler z. B. dreieinhalb bis fünf Rubel, das heißt 7,5 bis 11 M in der Woche betrug. Durchschnittlich verdienten erwachsene männliche Arbeiter 7 bis 8 M in der Woche. Und damit sollten mehrköpfige Familien bei der exorbitanten Teuerung aller Lebensmittel auskommen!

Es sollte jedoch noch besser kommen. Im letzten Winter traten zu der Peitsche der Hungerlöhne noch die Skorpione der Arbeitslosigkeit. Eine schwere Krise erschütterte die Łódźer Textilindustrie. Die Zeitungen gaben die Zahl der Arbeitslosen auf 30000 bis 50000 an. Die Not in Łódź war entsetzlich. Leute fielen buchstäblich auf der Straße tot [um] vor Hunger.

Die „Gesellschaft für schnelle ärztliche Hilfeleistung“ wurde vom Łódźer Polizeihauptmann über die Zahl der vorkommenden Unfälle am 9. März dieses Jahres

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[1] Der Artikel erschien anonym, ist aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg geschrieben worden.

[2] Die Textilarbeiter in Łódź und Umgebung standen im Sommer 1913, vor allem im Juni und Juli, im Kampf um höhere Löhne. Bis zum 8. August beteiligten sich 80000 Arbeiter. Gegen die Streikenden wurde Militär in Bereitschaft gehalten; viele Arbeiter wurden verhaftet.