Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 756

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-7-2/seite/756

Über den politischen Massenstreik. Diskussionsrede in der erweiterten Parteivorstandssitzung mit Gewerkschaftern Anfang August 1913

[1]

Nach einem Polizeibericht vom 7. August 1913

Hiernach[2] erhält Rosa Luxemburg das Wort. Sie kritisiert zunächst das Verhalten der Verbandsvorstände zum Massenstreik, verurteilt das Verhalten der Vorstände in der jetzigen Werftarbeiterbewegung.[3] Das Fühlen und Denken mit der Masse ist den Ge-

Nächste Seite »



[1] Überschrift der Redaktion. – Das genaue Datum ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Die Sitzung dürfte vor dem 2. August stattgefunden haben, da Rosa Luxemburg vom 2. bis 8. August 1913 bei Clara Zetkin in Sillenbuch bei Stuttgart war. Siehe GB, Bd. 4, S. 289–296. Außer den Parteivorstandsmitgliedern waren neben Gewerkschaftsführern, die dem politischen Massenstreik ablehnend gegenüberstanden, prominente Parteimitglieder eingeladen, so u. a. Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Emil Eichhorn, Leiter des SPD-Pressedienstes, die Reichstagsabgeordneten Paul Lensch, Richard Fischer und Daniel Stücklen. Von der Berliner Organisation waren anwesend: Boeske, Max Groger, Davidsohn, Paul Hoffmann, Ritter, Max [?] Cohen. Die Landtagsfraktion wurde vertreten durch Konrad Haenisch, Adolph Hoffmann und Heinrich Ströbel. Angesichts der ausufernden und erneut heftiger werdenden Massenstreikdebatten sollte diese Sitzung verhindern helfen, daß vom bevorstehenden Parteitag zu radikale Beschlüsse gefaßt werden würden.

[2] Vorausgegangen waren, vom Parteivorstand organisiert, längere Ausführungen von Heinrich Cunow über die geschichtlichen Anfänge der Massenstreiks bzw. der Generalstreiksidee. Heinrich Schulz plädierte für den Massenstreik nicht nur zur Verteidigung des Reichstagswahl- und des Koalitionsrechts, sondern auch zur Eroberung neuer politischer Rechte. Arthur Stadthagen sprach über den Massenstreik als unbedingte Notwendigkeit. Es müsse gehandelt werden. Fortwährende Diskussionen und Erwägungen würden die Massen nicht begeistern. Blum wandte sich gegen den Massenstreik zur Eroberung des demokratischen Wahlrechts, er würde zum Untergang von Partei und Gewerkschaften führen. Heinrich Stühmer meinte, ein politischer Massenstreik ohne wirtschaftliche Forderungen könne nicht durchgeführt werden. Hermann Müller äußerte, bei dem gegenwärtigen Stagnieren des Partei- und Gewerkschaftslebens und der derzeitigen Konjunktur führte ein Massenstreik zur Zertrümmerung alles Erreichten. Der preußische Wahlrechtskampf müsse zum Kampf gegen die Reaktion in ganz Deutschland gemacht werden. Es gehe um Ausbau der Organisationsarbeit und Propagierung des Massenstreiks. Nach Dr. Erdmann wäre ein Massenstreik im Westen undurchführbar. Das Unternehmertum und das Zentrum seien Gegner. Außerdem hielte der Katholizismus viele Arbeiter vom Mitmachen ab. Nach Scheidemann schlösse die Existenz und der Einfluß der christlichen Organisationen noch lange Zeit einen Massenstreik aus. Zuviel Indifferente, vom Kapital „Entmannte“ gebe es, weil die Wohlfahrtskette für Langzeitarbeiter über 20 Jahre, das Werkswohnungswesen u. a. vom Kampf abhielten. Nur für ein paar Tage Demonstrationen brauche man keinen Massenstreik. Beim organisierten Massenstreik fehle außerdem das Moment der Überraschung der Gegner, die in der Verwirrung Militär aufböten könnten.

[3] Vom 14. Juli bis Mitte August 1913 fand ein Werftarbeiterstreik statt. Nach wochenlangen ergebnislosen Verhandlungen mit den Unternehmern über die von den Arbeitern geforderte Herabsetzung der Arbeitszeit, die Erhöhung der Löhne, die Gewährung eines Urlaubs bei Fortzahlung des Lohnes u. a. gab die provokatorische Entlassung mehrerer Vertrauensleute der Hamburger Schiffbauer den letzten Anlaß zum Ausbruch des Streiks. Der Ausstand begann in Hamburg und griff auf Bremen, Flensburg, Kiel, Stettin und Vegesack über. Ende Juli streikten rd. 35000 Arbeiter. Die Gewerkschaftsführer des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes erklärten den Ausstand zum „wilden Streik“ und zahlten keine Unterstützung. Trotz des Protestes von 10000 Streikenden in vielen Versammlungen in Hamburg am 14. August 1913 gegen das Abwürgen des Streiks durch die Gewerkschaftsführer wurden die Arbeiter gezwungen, die Arbeit bedingungslos wieder aufzunehmen.