Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 723

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Die bevorstehenden Reichstagswahlen. Rede am 4. Januar 1912 in einer öffentlichen Volksversammlung in Arnstadt

[1]

Nach Zeitungsberichten

I

Sie begann mit einer allgemeinen Schilderung der kommenden Reichstagswahlen. Diese geschähen zum ersten Male während eines Krieges, des Kampfes der Italiener und Türken um Tripolis.[2] Dies gab der Rednerin Veranlassung, auf die Unsicherheit der außenpolitischen Lage und die unablässig drohenden Gefahren internationaler Verwicklungen und Konflikte hinzuweisen. Diese internationale Kriegsgefahr ist nach der Meinung der Referentin daran schuld an dem herrschenden Militarismus und den seit den letzten 40 Jahren nach den „erbärmlichen“ Siegen von 1870[3] so rasch angewachsenen Armee- und Marineausgaben. Der Frieden werde nicht durch die gewappnete Macht geschützt, sondern nur durch den entschiedenen Willen der arbeitenden Volksmassen aller Länder, den Frieden mit allen Kräften aufrechtzuerhalten und nur dann zu den Waffen zu greifen, wenn es eigenes Ermessen gebiete. Daher müssen die Waffen dem Volke zu Aufbewahrung in der Hütte des einzelnen ausgeliefert werden. Dann werde die Entscheidung über Krieg und Frieden nicht in den Händen des Kaisers und seiner Ratgeber, sondern bei der Masse des Volkes liegen.[4] Die Rednerin zog dann gegen den „Kadavergehorsam“ beim Heere zu Felde und streifte dann den Massenstreik im Kriegsfalle. Sie ließ die Frage offen, ob derselbe von ihrer Partei gepredigt werden würde oder nicht. Das werde von den Verhältnissen abhängen. Dagegen würde man die Proletarier im Waffenrock auf beiden Seiten auffordern, nicht sich zu bekämpfen, sondern gegen den gemeinsamen Feind, gegen den Kapitalismus, zu Felde zu ziehen. Die Zeit sei gekommen – habe man doch auch in China, dem vieltausendjährigen Reiche, die Revolution[5] – wo auch in Deutschland der Kampf offen zwischen Kapitalismus und Proletarismus geführt werden müsse. Die erste Etappe der kommenden Vernichtungskämpfe seien die jetzigen Reichstagswahlen.

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[1] Trotz intensiver Recherchen konnten keine weiteren Berichte über Versammlungen im Reichstagswahlkampf 1912 ermittelt werden, auf denen Rosa Luxemburg auch als Rednerin angekündigt worden war.

[2] Im September 1911 hatte Italien einen Krieg gegen das Osmanische Reich provoziert. Am 29. September 1911, dem ersten Tag des Italienisch-Türkischen Krieges, war von der Leitung der Sozialistischen Partei ein auf 24 Stunden befristeter Generalstreik für Italien ausgerufen worden, dem in vielen Städten des Landes Demonstrationen und Kundgebungen gegen den Krieg vorausgegangen waren. Unter Ausnutzung der imperialistischen Gegensätze um Marokko gelang es Italien im Oktober 1912, Tripolis und die Cyrenaica zu annektieren.

[3] Gemeint ist der Deutsch-Französische Krieg 1870/71.

[4] Gemeint ist die Forderung im Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das vom Erfurter Parteitag 1891 angenommen worden ist, die lautet: „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung. Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege.“ Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Erfurt vom 14. bis 20. Oktober 1891, Berlin 1891, S. 4.

[5] Die Führer des Aufstandes beschlossen, die Republik auszurufen, und forderten alle Provinzen des Landes auf, sich dem Aufstand anzuschließen. Bis Ende November 1911 hatten sich 15 Provinzen für unabhängig von der Mandschu-Regierung erklärt. Am 1. Januar 1912 wurde die Chinesische Republik proklamiert und Sun Yat-sen zum Provisorischen Präsidenten gewählt.