Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 691

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Das Regime Stolypin

[1]

Die rächende Hand hat den Mann niedergestreckt, der seit einem Lustrum die Henkersarbeit der zaristischen Regierung leitete. Die Sage weiß von der Schädelpyramide des Hunnenkönigs Etzel zu berichten. Wollte man die Schädel jener, die auf Stolypins Geheiß hingemordet wurden, zu Hauf türmen, die Welt würde mit Entsetzen sehen, daß das Hunnenregiment auch heute noch fortbesteht. Mit Schaudern nur gedenken wir der Greuel der Bartholomäusnacht,[2] aber unter dem Regime Stolypins dauerte der Massenmord jahrelang. Deshalb kann der Schuß, der in der Galavorstellung in Kiew fiel, niemanden in Erstaunen setzen.[3]

Die erste Phase der russischen Revolution[4] war im Dezember 1905 durch die Niederwerfung des bewaffneten Aufstandes in Moskau beendet. Die erste Duma war am 10. Mai 1906 zusammengetreten. Zähneknirschend mußte die zaristische Regierung einsehen, daß sie durch Scheinkonzessionen nichts erreicht, daß das Volk sich nicht mit Phrasen abspeisen ließ. Am 21. Mai ward die Duma aufgelöst, der Premierminister Goremykin ging, Stolypin kam ans Ruder. Ein „neuer Mann“ unter den russischen Würdenträgern, ein Parvenü. Wie der Moskowiterzar Iwan der Schreckliche einst seine Bojaren beiseite geschoben und sein Vertrauen dem Henker Maluta geschenkt, so schob jetzt Zar Nikolaus die hohe Bürokratie zur Seite und setzte sein Vertrauen auf den Mann, der in Saratow blutige Henkersarbeit gegen die Arbeiter geleistet. Das Schreckensregime begann. Auf Befehl Stolypins verwüsteten die „Straf-

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[1] Der Artikel erschien anonym, er dürfte von Rosa Luxemburg stammen. Sie kannte sich gründlich in den Vorgängen Rußlands, vor allem der Revolution von 1905/1906 und deren Niederschlagung durch die Konterrevolution aus. Im September erst war sie wieder mit Freunden in der Debatte über russische Probleme gewesen, hatte am Erscheinungstag des Artikels abermals einen Russen zu Gast und traf auf der ISB-Sitzung zur Marokkofrage am 23./24. September 1911 in Zürich auf Lenin. Auf Stolypin war sie z. B. unter dem Titel Die Nationaldemokraten erklären die Revolutionäre für vogelfrei. In: Czerwony Sztandar [Rote Fahne] vom 30. August 1906 und im Artikel Lehren aus den drei Dumas. In: Przegla˛d Socjaldemokratyczny [Sozialdemokratische Rundschau] vom April 1908 konkret zu sprechen gekommen. Siehe Rosa Luxemburg: Arbeiterrevolution 1905/06. Polnische Texte. Hrsg. und übersetzt von Holger Politt, Berlin 2015, S. 230 f., 253 und 256.

[2] In der Bartholomäusnacht zum 24. August 1572 wurden der Admiral Coligny und andere Anführer der französischen Protestanten (Hugenotten) mit Tausenden von Glaubensgenossen auf Befehl der Königinmutter Katharina von Medici in Paris ermordet.

[3] Das Attentat auf Pjotr Stolypin am 14. September 1911 im Opernhaus von Kiew wurde wohl mit Wissen des Zaren durchgeführt. Stolypin starb an den Folgen des Attentats am 18. September 1911.

[4] Am (9.) 22. Januar 1905 waren in St. Petersburg 140000 Arbeiter zum Winterpalais mit einer Bittschrift gezogen, in der sie den Zaren um die Verbesserung ihrer Lebenslage ersuchen wollten. Die Demonstranten, unter denen sich auch Frauen und Kinder befanden, wurden auf Befehl des Zaren mit Gewehrsalven attackiert, über 1000 Menschen wurden getötet und etwa 5000 verwundet. Dieses Blutvergießen löste eine Welle von Proteststreiks und Bauernunruhen in ganz Rußland aus und war der Beginn der Revolution in Rußland 1905/06.