Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 766

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Bebel und die deutschen Arbeiter in Łódź

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August Bebels Bedeutung für die Arbeiterbewegung seiner Heimat, seine Verdienste um die Freiheitsbewegungen der Geknechteten und Entrechteten aller Länder, wie seine persönlichen Tugenden, vor denen sich Feind wie Freund gleich achtungsvoll neigen, werden an seinem Todestage hunderte Arbeiterblätter rühmend in die Welt tragen. Hier soll versucht werden, anzudeuten, was August Bebel den nach Zehntausenden zählenden deutschen Proletariermassen im russisch-polnischen Industriezentrum Łódź war.

Die Mehrzahl der deutschen Arbeiter, die vor mehreren Jahrzehnten meist aus Schlesien und Sachsen scharenweise in Polen eingewandert sind, deckt das Grab. Ihre Kinder und Enkel kennen Deutschland nur vom Hörensagen aus den Überlieferungen ihrer Väter. Sie wissen so gut wie nichts von der „vaterländischen“ Geschichte und sind frei von jenem hurrapatriotischem Ballast, der den Arbeitern in Deutschland eingepfropft wird. Was ihren Blick immer wieder sehnsuchtsvoll nach Deutschland lenkt, was sie mit unverhülltem Stolz für das Land erfüllt, das sie nie gesehen haben, ist die von ihren Vätern herübergebrachte Kunde von den großen sozialen Kämpfen und der schon zur Zeit der Auswanderung machtvoll einsetzenden Arbeiterbewegung. So ist es der Sozialismus, ist es die Partei der „vaterlandslosen Gesellen“, was diesen in die Fremde verschlagenen Proletariern die Heimat ihrer Väter teuer, was sie zu „Patrioten“ macht.

Der gewaltige Einfluß dieser Tradition zeigte sich, als die Sozialdemokratie Polens ihre fruchtbare Tätigkeit auf die deutschen Arbeiter in Łódź ausdehnte. Zu Tausenden sammelten sie sich um die sozialdemokratische Fahne. Freudig folgten sie dem Rufe ihrer Partei, Schulter an Schulter mit ihren polnischen Brüdern gegen Zarismus und kapitalistische Ausbeutung zu kämpfen. Sie stellten am ersten Mai die Arbeit ein, schlossen sich den polnischen Arbeitermassen an, als diese zu Zehntausenden in den Straßen demonstrierten. Sie gaben ihren während der imposanten Straßendemonstrationen von Kosakenkugeln gefallenen Brüdern ein Geleit, wie es keinem Könige je herrlicher zuteil geworden ist. Sie kämpften im Verein mit den polnischen Arbeitern in gewaltigen siegreichen Massenstreiks um die Erringung des Neunstundentages,

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[1] Der Artikel erschien anonym. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin, denn sie interessierte sich von Anbeginn ihrer politischen Tätigkeit für das Industriegebiet Łódź und dessen Bevölkerung. Siehe dies.: Eine Riesendemonstration in Łódź. In: GW, Bd. 6, S. 543 ff.; dies: Die Aussperrung der Textilarbeiter in Łódź. In: GW, Bd. 7/1, S. 86 ff.; dies.: Łódź. In: ebenda, Bd. 7/2, S. 741 ff.; dies.: Ein Riesenkampf in Łódź. 40000 Textilarbeiter ausgesperrt. In: ebenda, S. 747 ff.