Die Liebknecht-Wahlen
[1]Die Ersatzwahlen für den deutschen Reichs- und den preußischen Landtag, die durch die kriegsgerichtliche Verurteilung des Genossen Liebknecht[2] notwendig geworden waren, boten den Regierungssozialisten, eine, wie es scheint, ihnen sehr willkommene Gelegenheit, ihr innerstes Wesen zu enthüllen. Und man muß zugeben, daß sie die Probe trefflich bestanden haben.
Sie achteten den Burgfrieden so weit, daß sie sich nicht nur mit Konservativen, Liberalen und Ultramontanen, sondern selbst mit Antisemiten, Gelben[3] und Reichsverbändlern[4] herzinnig verbrüderten, aber sie mißachteten ihn, soweit es auf die Bekenner der alten, unverfälschten, unverstümmelten Sozialdemokratie ankam. Die mußten niedergesäbelt werden, und die Regierungssozialisten rechneten es sich zur besonderen Ehre an, an der Spitze eines Falstaffhaufens zu marschieren, wie er buntscheckiger nie in eine Wahlschlacht marschiert ist.
Selbst nicht in den Angstwahlen von 1887,[5] zu denen die Reichstagswahl in Potsdam-Spandau-Osthavelland sonst ein ganz treffendes Abbild im Kleinen bot. Denn damals fehlten in dem Brei doch die Regierungssozialisten, die ihm diesmal die ei-
[1] Der Artikel ist mit ♂, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen versehen, das sie auch für ihre Beiträge in der SAZ 1898 häufig verwendet hat. Siehe GW, Bd. 6, S. 129 ff. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist der Artikel unter Nr. 643 ausgewiesen; ebenso in der Bibliographie von Narihiko Ito von 2002, S. 25, unter Nr. 46. Siehe auch S. 995, Fußnote 1 und S. 999, Fußnote 1.
[2] Die Verhandlung erster Instanz gegen Karl Liebknecht hatte am 28. Juni 1916 unter Ausschluß der Öffentlichkeit vor dem Kommandanturgericht in Berlin stattgefunden. Anlaß war sein Auftritt am 1. Mai 1916 auf dem Potsdamer Platz, wo er Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! in die Menge gerufen hatte. Die Anklage lautete auf „einfachen Kriegsverrat“ und „Landesverrat“. Das Urteil lautete auf zwei Jahre sechs Monate und drei Tage Zuchthaus. Das Urteil zweiter Instanz, gefällt vom Oberkriegsgericht Berlin am 23. August 1916, lautete auf vier Jahre einen Monat Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für sechs Jahre. Dieses Urteil wurde in letzter Instanz am 27. November 1916 vom Reichsmilitärgericht bestätigt und damit rechtskräftig. Am 8. Dezember 1916 wurde Karl Liebknecht ins Zuchthaus Luckau eingeliefert. – Siehe Was ist mit Liebknecht?, Liebknecht und Wofür kämpfte Liebknecht und weshalb wurde er zu Zuchthaus verurteilt? In: GW, Bd. 4, S. 194 ff, 215 ff. und 219 ff.
[3] Siehe S. 808, Fußnote 7.
[4] Siehe S. 94, Fußnote 3.
[5] Gemeint sind die Reichstagswahlen am 21. Februar 1887. Sie fanden in einer durch Reichskanzler Otto von Bismack gegen die revanchistischen Bestrebungen des französischen Kriegsministers Georges Boulanger geschürten antifranzösischen Pressekampagne statt, durch die eine Atmosphäre des Chauvinismus und des Terrors herrschte.