Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 608

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Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Rede am 14. April 1910 in einer sozialdemokratischen Mitgliederversammlung in Essen-Maas

Nach einem Zeitungsbericht

Wir alle stehen wohl noch unter dem Eindruck der gewaltigen Demonstrationen vom letzten Sonntag, bei denen, auch nach Schätzung bürgerlicher Gegner, mindestens eine halbe Million Arbeiter den Ruf nach einem freien Wahlrecht erschallen ließ.[1] Zum ersten Male standen die Kundgebungen unter dem Zeichen der polizeilichen Genehmigung. Wenige Wochen vorher, am 6. März, als Hunderttausende im Berliner Tiergarten ruhig und friedlich, ohne ein Grashälmchen zu zerknicken, demonstrierten, da sprengten die Schutzleute in die Massen, ritten sie nieder und ließen die Säbel über die Köpfe und Rücken der Menge tanzen.[2] (Pfui!) So begegnete man mit brutaler Gewalt der ersten großen Demonstration in der inneren Stadt Berlin. Noch einige Tage vor der letzten Demonstration waren in Berlin, in Bremen, Dortmund usw. die Demonstrationen für Sonntag, [den 10. April 1910], verboten, im letzten Moment schlug der Wind in den oberen Regionen um und man geht wohl nicht fehl, wenn man eine Anordnung des Herrn v. Jagow an seine Untergebenen im Lande annimmt, den Demonstrationen keine Schwierigkeiten zu machen.

Natürlich entsprang solche Handlung nicht gutem Herzen oder politischer Einsicht, sondern der Erwägung, daß die Massen mit oder ohne Erlaubnis ihren Willen durchsetzen würden. Was wir am Sonntag erreicht, war der erste gewaltige Sieg im Wahlrechtskampfe. Nun heißt es natürlich nicht, die Hände in den Schoß legen, sondern, um mit einem Wort des Deutschen Kaisers zu reden, das er sprach, als man Milliardenlasten für die Flotte dem Volk auferlegt hatte: Nun aber weiter![3] (Lebhafte Zustimmung.)

Zwei Tage nach diesem Sonntag wagte das Dreiklassenhaus das Gesetz anzunehmen,[4] gegen das am Sonntag noch das Volk protestierte. Jetzt bleibt nur noch der Segen jener Kammer Preußens, in der die geborenen Gesetzgeber sitzen, jene, die sozusagen aus dem Mutterleib in die Rechte des Gesetzgebers hineinwachsen. Dann ist dieser Epilog zum Wahlrechtskampfe aus und für uns beginnt eine neue Epoche dieses Kampfes: Die direkte Auseinandersetzung des Volkes mit der Reaktion.

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[1] Am 10. April 1910 hatten in ganz Preußen und in anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht stattgefunden, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wieder erkämpft hatten.

[2] Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower Park aufgerufen, die durch das Eingreifen der Polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Aktion durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150000 Demonstranten.

[3] Am 13. Juni 1900 hatte die Direktion der Hamburg-Amerika-Linie zur Annahme des Flottengesetzes Wilhelm II. ein Glückwunschtelegramm gesandt, auf das er antwortete: „Nun aber weiter, daß unsere Flotte auch bald wirklich achtungsgebietend auf dem Meer erscheinen kann, als Kraftzuwachs in meiner Hand der Welt den Frieden zu bewahren.“ Siehe Das persönliche Regiment. Reden und sonstige öffentliche Äußerungen Wilhelms II. Zusammengestellt von Wilhelm Schröder, München 1907, S. 30.

[4] Siehe dazu Rosa Luxemburg: Der Wahlrechtskampf und seine Lehren. Referat am 6. April 1910 auf einer Volksversammlung in Bremen. In: GW, Bd. 7/2, S. 584 ff.; dies.: Die Lehren des Wahlrechtskampfes. Rede am 12. April 1910 auf einer Volksversammlung im Gewerkschaftshaus in Dortmund. In: ebenda, S. 599 ff.