Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 7.2, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2017, S. 877

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Unser Kampf gegen Kasernenroheit

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Wer einmal während seiner Dienstzeit Soldatenmißhandlungen erlebt hat, wer sie selbst erduldet hat oder mit ansehen mußte, wie Söhne des Volkes durch harten Drill, durch Quälereien aller Art gepeinigt wurden, der weiß, wie notwendig die rücksichtslose Kritik ist, die die Sozialdemokratie bei jeder Gelegenheit an dem heutigen Militärsystem übt.

Aber gerade diese aufklärende, aufrüttelnde Kritik der Sozialdemokratie am Militarismus wird den Herrschenden immer unheimlicher. Bei der allgemeinen Zuspitzung der Klassengegensätze, dem rauen Kampf, der auf allen Gebieten tobt, ist bei den Vertretern der herrlichen heutigen Gesellschaftsordnung der Glauben an sich selbst längst geschwunden. Die brutale Gewalt der Bajonette ist für sie zur Ultima ratio, zum letzten Rettungsanker geworden, mit dessen Hilfe sie sich zu schützen wähnen. Zugleich müssen sie aber wahrnehmen, wie das „Volk in Waffen“, das diese Bajonette führt, immer mehr und mehr durch die Sozialdemokratie aus einem blinden Werkzeug der Herrschenden zum denkenden Volk erzogen wird.

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief vom 4. Juni 1914 an Paul Levi ist sie die Verfasserin. „Ich habe heute endlich eine Sitzung des Parteivorstands veranlaßt“, schrieb sie ihm, „in der ich die Frage des Aufrufs stellte. Erst waren alle entschieden dagegen, dann waren alle entschieden dafür, und zwar in der Form eines Artikels gegen den Militarismus agitatorischen Charakters, an den die Aufforderung, sich zu melden, angeschlossen wird. Heute schreibe ich den Artikel, morgen soll ihn der Parteivorstand versenden. Außerdem soll er ein Zirkular an die Presse und Organisationen versenden.“ Siehe GB, Bd. 5, S. 440. Schon Ende Mai 1914 hatten sich Paul Levi und Kurt Rosenfeld in mehreren Briefen über die Vorbereitung des Prozesses verständigt. „Ich bin der Meinung“, hatte Levi am 26. Mai 1914 geschrieben, „daß uns nichts anderes übrig bleibt, als durch Aufruf in der Parteipresse möglichst viele Zeugen zu beschaffen. Es ist in diesem Falle nicht damit getan, daß wir eine Reihe, wenn auch noch so krasser Fälle, zur Kenntnis des Gerichts bringen, sondern es muß das Gericht buchstäblich durch die Masse der Fälle erschlagen werden. Die Anklage steht und fällt ja mit dem Satze, daß die Verallgemeinerung, daß tagaus tagein Mißhandlungen im Deutschen Heere üblich seien, nicht wahr sei, so bleibt, um diese Behauptung der Anklage so zu widerlegen, kein anderer Weg übrig.“ Siehe AdsD, Bonn, Nachlaß Paul Levi, 1/PLAA000255. Erhalten geblieben ist das Zirkular eines Kreisvorstandes in Berlin vom 8. Juni 1914 an die Genossen. Ebenda. Ein Aufruf des Parteivorstandes erschien erst am 23. Juni 1914 im Vorwärts (Berlin).

Der Berliner Polizeipräsident von Jagow informierte den Innenminister am 18. Juni 1914, daß vertraulichen Informationen zufolge bereits 2800 Meldungen zu Soldatenmißhandlungen bei der Vorwärts-Redaktion, also nach Rosa Luxemburgs Artikel vom 7. Juni 1914, eingegangen seien. Vom Innenminister ging die Information an den Kriegsminister und an das Reichsmarineamt. Siehe RGASPI, Moskau, Fonds 191, Nr. 628, Bl. 35 u. 36.